Trauriger Rekord: So extrem litten die Gletscher dieses Jahr wirklich
Schon früh zeichnete sich ab, dass den Alpengletschern dieses Jahr eine Rekordschmelze droht. Bereits Ende Juni lagen die Gletscher auf rund 3000 Meter Höhe blank, geschuldet dem schneearmen Winter und den intensiven Hitzewellen, die Europa schon im Mai heimsuchten. Eine Erlösung folgte nicht, im Gegenteil: Die Glaziologinnen und Glaziologen vom Schweizerischen Gletschermessnetz Glamos haben festgestellt, dass die Gletscher in diesem Jahr über sechs Prozent ihres noch vorhandenen Eisvolumens einbüssten. Das entspricht einem Verlust von über drei Kubikkilometer Eis. Zum Vergleich: Der Walensee fasst ein Volumen von 2,5 Kubikkilometer Wasser.
Dieser Eisverlust ist zwei bis drei Mal so hoch wie in den bisher als «extrem» bezeichneten Jahren. «Ein Rekordjahr war absehbar, aber das Ausmass haben wir nicht annähernd erwartet», sagt der ETH-Glaziologe Matthias Huss, der Leiter von Glamos. Ihm zufolge haben viele Gletscher in diesem Jahr einen Kipppunkt erreicht. Dies manifestiert sich in neu gebildeten Felsinseln inmitten von zuvor geschlossenen Eisflächen sowie in neu aufgerissenen Spalten, die den Blick auf den Felsgrund freilegen. «Die Gletscher zerfallen und ihre Einzelteile schmelzen nur noch vor sich hin», konstatiert Huss.
Messpunkt am Findelgletscher erstmals ausgeapert
Eindrücklich zeigt sich der Massenverlust etwa auf dem Konkordiaplatz auf dem Grossen Aletschgletscher auf 2650 Metern: Dort schmolzen sechs Meter Eis, wie ein Bild der ausgeaperten Pegelstange offenlegt.
Tatsächlich war die Schmelze insbesondere in höheren Lagen aussergewöhnlich gross, wie Huss sagt. So verloren die Gletscher im Engadin und südlichen Wallis selbst auf 3000 Metern eine Eisschicht von vier bis sechs Metern Dicke. Das ist teils mehr als doppelt so viel wie das bisherige Maximum. Erstmals seit Messbeginn war auch der Findelgletscher östlich von Zermatt auf 3500 Meter ausgeapert und schrumpfte entsprechend. Auf dem Jungfraujoch erfassten die Glaziologen zudem erstmals seit Beginn der Messungen vor 100 Jahren überhaupt einen Eisverlust.
Stark setzte das Rekordjahr auch den kleinen Gletschern zu – und gab manchen gar den Todesstoss. Auf dem Pizolgletscher, dem Vardet dal Corvatsch und dem Schwarzbachfirn mussten die Messungen abgebrochen werden, weil sämtliche Messstangen ausschmolzen und das Eis praktisch gänzlich verschwand.
«Diesen Sommer spielte sich ein Szenario ab, wie es Klimamodelle seit langem prognostizieren», sagt der Glaziologe Huss. Insofern sei das Rekordjahr nicht unerwartet eingetroffen. Aber dennoch: «Es überrascht mich, dass ein solches Extremjahr schon jetzt, Anfang der 2020er-Jahre, aufgetreten ist.» Zwar fiel vor zwei Wochen erstmals verbreitet Schnee in der Schweiz. Damit konnte allerdings das Leiden der Gletscher nur gestoppt werden. Kompensieren lässt sich der Eisverlust des Sommers dadurch bei weitem nicht.
«Sommer hat vielleicht vielen die Augen geöffnet»
Vor zwei Wochen stimmte das Parlament dem Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative zu. Abstimmen wird das Volk darüber trotzdem müssen. Denn die SVP hat mitgeteilt, das Referendum gegen das Gesetz zu ergreifen. Den Glaziologen Huss, der Teil des wissenschaftlichen Beirats der Gletscher-Initiative ist, zeigt sich nicht erstaunt über diesen Schritt der Partei. «Es war absehbar, dass das Referendum ergriffen wird. Aber ich hoffe sehr, dass dieser Sommer dazu beigetragen hat, der Bevölkerung die Augen zu öffnen», sagt er. Denn der massive Gletscherschwund habe gezeigt, dass man Massnahmen jetzt ergreifen müsse, für Verzögerungen bleibe faktisch keine Zeit mehr.
Aussichtslos ist das Unterfangen, zumindest einen Teil der Gletscher noch zu retten, keineswegs: Konsequenter Klimaschutz und eine Begrenzung der Erwärmung von unter zwei Grad könnte ein Fünftel der Alpengletscher bis Ende des Jahrhunderts noch retten. Steigen die globalen Temperaturen nur um 1,5 Grad, könnte gar ein Drittel des Gletschervolumens erhalten bleiben.