Der Chef der Jungfraubahn-Gruppe verrät: So lange wird es das ewige Eis auf dem Joch noch geben
Fast auf den Tag genau vor 130 Jahren machte der Zürcher Textilfabrikant und Eisenbahninvestor Adolf Guyer-Zeller die bahntechnische Erschliessung der Jungfrau zu seinem letzten unternehmerischen Grossprojekt. Was in der Gründerzeit auch eine romantische Vision gewesen war, ist heute ein touristischer Grossbetrieb von Weltformat. «Top of Europe»: Der auf fast 3500 Metern über Meer gelegene höchste Bahnhof Europas schleust Jahr für Jahr mehr als eine Million Menschen auf das Jungfraujoch – die grosse Mehrheit aus Übersee. Urs Kessler, langjähriger Chef der Jungfraubahn-Gruppe, sieht zwischen Geschäft und Nachhaltigkeit keinen Widerspruch.
Die Jungfraubahn-Gruppe hat 2023 fast 80 Millionen Franken Gewinn erzielt. Wie werten Sie das Ergebnis?
Urs Kessler:2023 war ein Steigerungslauf. Vor allem ab September lief es hervorragend. Der Gewinn übertrifft das bisherige Rekordergebnis aus der Zeit vor der Pandemie um fast 50 Prozent.
46 Prozent des Gewinns gehen an die Aktionäre. Was hat der Berg davon, dem Sie alles verdanken?
Der Berg gehört zum Inventar des Unesco-Weltnaturerbes Swiss Alps Jungfrau-Aletsch. Wir bringen seine Einmaligkeit zahlreichen Menschen aus vielen Ländern näher. Der Berg hat auch allen Grund, stolz auf sich zu sein. Er schützt eine Randregion wie die unsere vor Abwanderung. Wir nutzen ihn darum sorgsam.
Was heisst das konkret?
Die Jungfraubahnen bieten 975 Mitarbeitenden einen Arbeitsplatz, und das Unternehmen zahlt 20 Millionen Franken an Steuern in der Region. Allein in der Gemeinde Grindelwald sind laut Studien 91 Prozent der Arbeitsplätze vom Tourismus abhängig. Wir betreiben seit je unser eigenes Laufwasserkraftwerk und planen jetzt ein alpines Solarkraftwerk, damit wir in der Energieversorgung ganz autark werden.
Dann ist die Jungfraubahn, die jedes Jahr mehr als eine Million Menschen anlockt, also ein Segen und kein Fluch für die Region?
Die Bahn ist ganz klar ein Segen. Dank ihr verteilt sich der Tourismus über das ganze Jahr. Unsere vielen Sommergäste heben uns deutlich ab von anderen Bergdestinationen in der Schweiz, wo die Einnahmen zu 80 Prozent im Winter anfallen.
Aber die allermeisten Gäste kommen mit dem Flugzeug von Übersee. Sie bleiben eine Nacht und hinterlassen einen ökologischen Fussabdruck, der in keinem Verhältnis zu der erzielten Wertschöpfung steht.
Viele unserer Gäste bleiben inzwischen auch zwei Nächte. Wir betreiben ein Crossmarketing und bieten ihnen immer auch noch eine zweite Destination in der Region zum Besuch an. So holen wir mehr Wertschöpfung in die Region, und wir gleichen die extremen saisonalen Spitzen aus, indem wir mehr Gäste in der Zwischensaison gewinnen. Wir investieren auch viel. Von den 510 Millionen Franken, die wir in den Bau der neuen 3S-Bahn zum Eigergletscher und der neuen Gondelbahn zum Männlichen investiert haben, gingen 95 Prozent an regionale Auftragnehmer.
Trotzdem: Es ist ein Fakt, dass Ihre Gäste aus aller Welt das Klimaproblem verschärfen.
Das Jungfraujoch ist für viele eine Station einer grösseren Europareise. Gäbe es das Jungfraujoch nicht, würden die Touristen aus Übersee genau gleich nach Europa reisen. Aber wie gesagt, dort, wo wir die Kontrolle selbst haben, legen wir grössten Wert auf Nachhaltigkeit.
Aber Hand aufs Herz: Sind durchschnittlich 3000 Besucher pro Tag auf einem doch ziemlich engen Joch nicht etwas viel für ein nachhaltiges Bergerlebnis?
Entscheidend ist für mich, was unsere Gäste denken. Und diese beurteilen den Besuch des Jungfraujochs nach wie vor als absoluten Höhepunkt.
Warum eigentlich?
Weil wir ihnen ein Gesamterlebnis bieten. Den Ausguck bei der Station Eismeer auf der Fahrt hinauf zum Jungfraujoch, das Gefühl vom ewigen Eis im Inneren des Eispalastes oder die freie Sicht auf den Aletschgletscher. Seit 2012 können die Gäste auf dem Jungfraujoch in einem Erlebnisstollen mehr über die Geschichte des Baus der Jungfraubahn erfahren, ohne dass sich ihre Wege kreuzen. Sie verteilen sich sehr gut da oben, zumal wir sie auch von morgens früh bis abends spät befördern. Seit 2016 hat jeder Gast dank einem Sitzplatzreservationssystem garantiert einen Sitzplatz in der Bahn.
Sie werben mit dem Slogan 365 Tage Schnee und Eis. Aber die Wissenschaft geht davon aus, dass es in 60 Jahren auch auf dieser Höhe kein ewiges Eis mehr geben wird.
Den Klimawandel gibt es. Wir nehmen ihn sehr ernst und treffen auch Massnahmen. Zum Beispiel dichten wir den Eispalast mit zusätzlichen Schneeschichten ab, damit wir ihn über das Jahr 2050 hinaus offenhalten können. Das ewige Eis wird es auf dem Joch bis 2100 geben. Das garantieren wir Ihnen und allen unseren künftigen Gästen.
Ist der Erfolg der Jungfraubahnen und ihrer Marke «Top of Europe» ein Produkt der Globalisierung?
Globalisierung heisst für mich nichts anderes, als am Wirtschaftswachstum von Asien zu partizipieren. Darum haben wir dort Ende der 1990er-Jahre, mitten in der grossen Wirtschaftskrise, unser eigenes Vertreternetz aufgebaut.
Sie waren jung und erfolgshungrig. Das Klima war nicht auf Ihrer Agenda, oder?
Wer sprach vor 30 Jahren schon gross vom Klima? Natürlich einige Forscher, die das Klima schon viel länger im Auge haben, auch bei uns in der Forschungsstation auf dem Jungfraujoch. Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir der Umwelt schon immer Sorge getragen. Ich wage zu sagen, dass kein anderes Bergbahnunternehmen ökologisch gesehen so viel macht wie die Jungfraubahnen.
Viele sagen, die Globalisierung könnte den Höhepunkt überschritten haben. Können die Jungfraubahnen langfristig erfolgreich bleiben?
Was die Entwicklung der Zahlen unserer chinesischen Gäste anbelangt, könnten Sie recht haben. Ich bezweifle, dass wir mit den Besuchern aus dieser Region in den nächsten fünf bis zehn Jahren wieder dahin kommen, wo wir 2019 waren. Aber wir kompensieren das gut. Das Geschäftsjahr 2023 belegt das. Wir hatten 75 Prozent weniger Gäste aus China, aber in der Summe waren es trotzdem fast so viele Gäste wie 2019. Kommt hinzu, dass wir wirtschaftlich breiter aufgestellt sind als früher.
Wie meinen Sie das?
Noch vor zehn Jahren waren wir grundsätzlich abhängig von den Gästen des Jungfraujochs. Inzwischen haben sich die Erlebnisberge sehr positiv entwickelt, auch der Wintersport ist wieder profitabel und weiter sahen wir im Jahr 2023 grosse Fortschritte bei unseren Gästen aus Südamerika. In Asien sind wir nicht nur in China, sondern in allen Märkten, auch in Indien, führend.
Warum machen Sie es nicht wie die Amerikaner? Sie kaufen Schweizer Skigebiete und verhindern so, dass wir in die USA fliegen müssen, um Ski zu fahren.
Ich sage Ihnen ganz ohne Ironie: Das Unternehmen Vail Resorts hat den Beweis noch lange nicht erbracht, dass es erfolgreich ist. Weder in Andermatt, noch und erst recht nicht in Crans-Montana. Dort wollen die Amerikaner in den nächsten fünf Jahren 30 Millionen Franken investieren, aber das ist nichts für ein so veraltetes Skigebiet. Da müsste wesentlich mehr Geld her, um die nötige Qualität zu erreichen.
Sie bauen also kein Skigebiet im Himalaja, damit die Inder und die Chinesen weniger weit reisen müssen?
Wir haben hier genug zu tun. Das zeigen die fünf neuen, strategischen Projekte, die wir gerade angekündigt haben. Es geht um eine Investitionssumme in Höhe von rund 270 Millionen Franken, von denen wiederum die Region und die lokale Bauwirtschaft profitieren werden. Unser Ziel ist die Steigerung des Unternehmenswertes – und zwar nachhaltig.
Die Zahnradbahn auf das Jungfraujoch ist die Paradelinie der Jungfraubahn-Gruppe. Sie hat 2023 rund 70 Prozent zum gesamten Verkehrsertrag von 196 Millionen Franken beigesteuert. Mit den Einnahmen aus Gastronomiebetrieben, Shops und anderen Aktivitäten erreichte das Unternehmen 2023 einen Gesamtertrag von 278 Millionen Franken. Nach drei pandemiebedingt schwachen Geschäftsjahren hat das Bergbahnunternehmen finanziell wieder Tritt gefasst und 2023 mit einem Gewinn von 80 Millionen Franken das bisherige Rekordergebnis aus dem Jahr 2019 um 50 Prozent übertroffen. Der Kurs der an der Schweizer Börse gehandelten Aktien der Jungfraubahn Holding ist seit 25 Jahren von 23 Franken auf über 200 Franken gestiegen. Rund 80 Prozent der Titel sind breit gestreut.