Die poetische Grenzgängerin Anna Felder ist tot
Viele Literaturliebhaber bewunderten Anna Felder, für das breite Lesepublikum blieb die Autorin ein Geheimtipp. Wer aber zum Beispiel ihren Band «Circolare» mit Kurzgeschichten in die Hände nahm, der staunte: Hier war eine Autorin am Werk, die mit subtiler Beobachtungsgabe, poetisch verdichtet und mit dem grossen Thema der Vertrautheit und Entwurzelung wunderbare Literatur schafft. Der Publizist Charles Linsmayer hat es vor Jahren treffend beschrieben: Felder habe bereits in ihrem Erstling «Quasi Heimweh» 1970 die Lage der Gastarbeiter mit Anteilnahme geschildert, ohne dabei zur politischen Pamphletistin zu werden. Die Autorin hatte ihre Erfahrungen als junge Lehrerin von Gastarbeiterkindern in Aarau einfliessen lassen. Der Schillerpreis 1998 und der Aargauer Literaturpreis 2004 waren mehr als verdient.
Rotwein in Pet-Flasche als Heimwehsymbol
Auch in ihrem letzten Buch «Circolare» sind die eindringlichsten Geschichten jene, in denen Felder Sehnsucht, Irritation, Überdruss und Gespaltenheit spüren lässt – ohne je das abgegriffene Wort «Heimat» zu verwenden. Viele ihrer Texte sollte man wie Gedichte lesen: Als hohe literarische Kunst, die Motive, Bilder, Objekte, Töne korrespondieren lässt. Da wird das Gemurmel auf der Strasse der alten Heimatstadt zur Person; ein auf einem Bistrotisch geparkter, «höflicher» Töffhelm wird zum Ansprechpartner und in den Reaktionen der Passanten zum Gesellschaftsbild. In ihren Texten fand sich aber immer wieder eine Spur schelmisch-melancholischen Humors. So wird etwa in der Kurzgeschichte «Merlot im Tarnmantel» der Tessiner Rotwein, getarnt in der Valser-Wasser-PET-Flasche und geschlürft im Gotthardtunnel, zum Heimwehtrank der Reisenden auf dem Rückweg ins Tessin, «um sich daheim zu fühlen, bevor sie zu Hause ankommt».
Sie war ein Vorbild für die Neugier über die Sprachgrenzen hinweg
Dieses Buch «Circolare» ist voll mit solchen treffenden Szenen, poetisch aufgeladen mit eindringlichen Lebensgeschichten, die auf Dramatisierung verzichten: Wunderbar leicht erzählt, mit feinem Schalk unterlegt. Sie lächelt über keifende Ehepaare, freche Kinder und allzu empathische Leserinnen. Anna Felder belebt Objekte, lässt in ihnen wie im Brennglas Mentalitäten, präzise Gefühle, Erinnerungen aufscheinen. Der eingravierte Olivenbaum auf dem Grabstein des Emigranten; die massiven Skulpturen im Garten des Deutschschweizer Nachbarn im Tessin – und reflektiert so nebenbei die lebensnahe Wirkung des Erzählens.
Anna Felder ist in ihrem Lehrerinnenberuf und in ihrer literarischen Werk der beste Beweis, dass die Neugier über Sprachgrenzen, die hierzulande leider schwach ist, sich lohnt und gerade für ein Land wie die Schweiz essenziell ist.