Lallender Bundespräsident, Herisauer Pizzaiolo, Reporter-Tränen: Was uns von dieser EM bleibt
Die Schweizer Handballer enttäuschen gegen Deutschland, sie begeistern gegen Frankreich und enttäuschen ein zweites Mal – gegen Nordmazedonien. Das ist die harte Wahrheit dieser Europameisterschaft in Deutschland.
Doch das ist nicht alles, was zählt. Es gibt Dinge, die abseits des Spielfelds passiert sind und bisher keine Erwähnung gefunden haben. Das holen wir an dieser Stelle nach.
8. Januar: Traktoren auf der Autobahn
Wie gelangen wir nach Düsseldorf? Doch mit dem Auto? Dabei ist das Bahnticket längst bezahlt, die Sitze reserviert. Aber der angedrohte Bahnstreik hängt wie ein Damoklesschwert über unserer Reise an die Handball-EM. Fast stündlich checken wir im Vorfeld die News. Dann, am Samstagabend, herrscht Klarheit, falls man im Zusammenhang mit der Deutschen Bahn jemals von Klarheit sprechen kann: Der Streik beginnt nicht vor Mittwoch. Prompt kommen wir am Montag pünktlich in Düsseldorf an. Und sehen aus dem Zug, wie die demonstrierenden Bauern mit ihren Traktoren grosse Teile der Autobahn lahmlegen. Der Kluge reist also doch im Zuge.
9. Januar: Lokführerstreik – wie kommen wir nach Berlin?
Der Streik beschäftigt uns trotzdem weiter. Nun ist klar: Von Mittwoch bis und mit Freitag geht quasi nichts auf den deutschen Schienen. Am Donnerstag, nach dem Weltrekord-Spiel gegen Deutschland, stünde aber der Transfer nach Berlin an. Die Flüge sind ausgebucht. Sollen wir mit dem Bus? Oder doch auf die Karte Bahn setzen? Schliesslich ist die DB Mobilitätspartner dieser EM. Und wenn am Donnerstag in Deutschland nur ein Zug fährt, dann jener mit uns und der Schweizer Nati an Board. Die können uns doch nicht in Düsseldorf stranden lassen. Oder doch ein Mietauto? Aber auf der Strasse droht die Bauern-Blockade. Verflixte Sache.
10. Januar: Lallt der Steinmeier?
Deutschland gegen die Schweiz. EM-Eröffnungsspiel. Zuschauer-Weltrekord. Da gehört es sich, dass ein ganz hohes Tier die Spiele für eröffnet erklärt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gebührt diese Ehre. Und er tut es in Englisch, wieso auch immer. Schliesslich sind von den über 53’000 Zuschauern in Stadion geschätzt 52’900 deutschsprachig. Für Steinmeier ist Englisch normalerweise kein Problem. Aber nicht an diesem Abend. Und viele fragen sich: Hat Steinmeier etwa gelallt? Egal. Denn im Unterschied zu Olaf Scholz, der vier Tage später in Berlin beim Spiel Deutschland – Nordmazedonien gnadenlos ausgepfiffen wird, ist man Steinmeier in Düsseldorf freundlich gesinnt.
11. Januar: Die Nati findet im Zug wieder zu sich
Immer noch etwas niedergeschlagen von der deutlichen 14:27-Niederlage findet sich die Schweizer Nati am Donnerstagmorgen am Perron von Gleis 19 in Düsseldorf ein. Auf der fünfstündigen Zugfahrt nach Berlin wird Karten gespielt, aber die Spieler sprechen auch Probleme an, analysieren, rücken näher zusammen und finden das Lachen wieder. «Es zeigt jetzt keiner mit dem Finger auf den anderen. So sind wir nicht», sagt Captain Nikola Portner. Es ist die Auferstehung.
12. Januar: Das Hotel als Wandelhalle für über 100 Handballer
Einen Tag nach der Ankunft im «Vienna House», dem neuen Teamhotel, sind die Reporter für eine Medienrunde eingeladen. Ein ungestörtes Video-Interview in der riesigen Lobby zu führen, ist fast unmöglich. Keine Sekunde ist es ruhig. Kein Wunder: Denn insgesamt befinden sich sieben Teams in diesem Hotel. Das sind allein rund 120 Spieler. Und sie alle teilen sich einen Speisesaal. Der Schweizer Max Gerbl sagt: «Es ist wie früher an den Jugend-Turnieren.» Mit dem Unterschied, dass sich hier lauter Superstars tummeln.
13. Januar: Gänsehaut mit den Färöer-Inseln
Auf der einen Seite die Norweger. Erfahren, bullig, favorisiert. Auf der anderen Seite EM-Neuling Färöer. Klein, wendig, begeisternd. Rund fünf Prozent aller 54’000 Einwohner sollen Handball spielen und etwa 5500 Fans, also 10 Prozent der Bevölkerung, sind in Berlin im Stadion. Gänsehaut bei der Nationalhymne, Gänsehaut während des Spiels und Gänsehaut danach. Weil es der Underdog tatsächlich schafft, dem Favoriten ein Bein zu stellen und ein Remis zu holen. Mit zwei Toren in den letzten 25 Sekunden. In der Mercedes-Benz Arena fliegt beinahe das Dach weg.
14. Januar: Der Pizzaiolo aus Herisau
Kollege Crippa will nicht mit. Also ziehe ich allein los in Berlin. Das Ziel ist Kreuzberg und gut essen. Im Netz spricht mich die Pizzeria Parma die Vinibenedetti an. Also stehe ich etwa eine halbe Stunde später vor der kleinsten Pizzeria, die ich je gesehen habe. Drinnen gibt es vier Tische. Das Lokal? Sehr trendy. Die Musik? Super cool. Das Essen? Der Oberhammer. Als ich der letzte Gast bin, komme ich mit dem Wirt, Koch und Kellner in Personalunion, ins Gespräch. Wir quatschen über unsere Kinder und irgendwann über uns und da erzählt er: «Ich bin in Herisau zur Welt gekommen.» Ich auch.
15. Januar: Fussmarsch in eisiger Kälte – wegen den Bauern
Letzter Medientermin im «Vienna House». Wir wollen das Tram nehmen, weil es draussen eisig kalt ist. Doch das kommt nicht. Auf der Gegenseite steht eines seit Minuten still. Also gehen wir die paar Kilometer. Und staunen nicht schlecht: Zwölf Strassenbahnen stauen sich auf freier Strecke. Dort, wo die Endstation vermerkt wird, steht: «Diese Fahrt endet hier.» Schuld sind die Bauern, die mit ihren Traktoren zum Brandenburger Tor fahren und den ÖV teilweise lahmlegen. Immerhin: Als wir einige Stunden später zurückwollen, fahren die Trams wieder und wir müssen dank eines Wahnsinnssprints nicht mal auf eines warten.
16. Januar: Tränen bei Schmid, aber nicht nur
Von den letzten fünf Spielminuten habe er während dreieinhalb Minuten geweint. Andy Schmid sagt nach der ärgerlichen 27:29-Niederlage gegen Nordmazedonien in den Katakomben der Arena erneut mit Tränen in den Augen: «Das war wahrscheinlich mein letztes Spiel für die Nationalmannschaft. Nein, das war mein letztes Spiel.» Ob er weiterhin für seinen Klub HC Kriens-Luzern aufläuft, nochmals wechselt oder sogar ganz zurücktritt, lässt er indes offen. Und als er den Nati-Rücktritt verkündet, verdrückt nicht nur er eine Träne. Nein, auch Reporter haben wässrige Augen.