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Könnte man den rutschenden Hang in Brienz einfach wegsprengen? Das sagt der zuständige Geologe

Die Frage ist angesichts der erneuten Brienzer Evakuierung wieder aufgekommen: Könnte eine gezielte Sprengung am Berg Abhilfe schaffen? Kantonsvertreter Andreas Huwiler erklärt, was die Schwierigkeiten dabei sind.

Die Idee scheint nahe liegend, und sie ist schon vor der Evakuierung von Brienz/ Brinzauls im Jahr 2023 ein erstes Mal aufgetaucht: Könnte man nicht am Brienzer Rutsch eine kontrollierte Sprengung durchführen, um so der Natur quasi auf die Sprünge zu helfen und die Situation am Berg zu klären, statt in Ungewissheit darauf zu warten, dass das befürchtete Ereignis irgendwann eintritt?Auch an der Bevölkerungsinformation vom letzten Samstag war die Frage wieder aufgeworfen worden.

Nun hat sich Andreas Huwiler, Geologe beim Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden, dazu geäussert: am Dienstagabend vor der erneut in Tiefencastel versammelten Bevölkerung von Albula/Alvra. Und grosse Hoffnung auf eine solche Lösung konnte er auch jetzt wieder nicht machen, im Gegenteil.

Über 30 Mal die stärkste Bombe der Welt

In der Regel, so Huwiler, benötige man für eine wirksame Sprengung rund 300 Gramm Sprengmittel pro Kubikmeter Material. Und dieses Sprengmittel könne nicht einfach an der Oberfläche angewendet werden, denn so würde seine Wirkung verpuffen. Es müsse vielmehr mit Bohrungen in den Untergrund gebracht werden, bei Lockergestein wie im Fall des Brienzer Rutsches in einem Raster von zwei bis vier Metern Abstand.

Huwilers Rechnung: Damit wären für ein Beseitigen der Schutthalde, die das Dorf aktuell bedroht, ungefähr 10’000 Bohrungen und 360 Tonnen Sprengmittel nötig. Zum Vergleich: Die «Massive Ordnance Air Blast», kurz Moab, die laut Wikipedia sprengkraftstärkste konventionelle Fliegerbombe im Arsenal der US-Streitkräfte, entwickelt eine Sprengkraft von etwa elf Tonnen TNT – mehr als 30 davon wären demnach nötig, um die Schutthalde als Gesamtes zu sprengen.

Die Geologen Andreas Huwiler, links, und Stefan Schneider bei der Bevölkerungsinformation zum Schuttstrom von Brienz, am Samstag, 9. November 2024, in Tiefencastel.
Bild: Gian Ehrenzeller/ Keystone

Es gäbe aber noch weitere Probleme bei einer derartigen Aktion: Die Personen, die die Bohrungen ausführen müssten, wären täglich Felsstürzen aus dem Rutschgebiet ausgesetzt, und das über eine sehr lange Zeit, wie Huwiler schätzt – 10’000 Bohrungen sind nicht so rasch erledigt. «Es gibt auch keine geeigneten Roboter oder Maschinen, die diese Arbeit erledigen könnten.» Und nicht zuletzt würden die bereits gesetzten Bohrlöcher laufend wieder zerstört, da sich der Berg ja ständig in Bewegung befindet.

Auch Teilsprengungen würden Risiken bergen

Auch Teilsprengungen statt einer Gesamtsprengung sieht Huwiler nicht als gangbaren Weg: Setzt man von oben an, könnte das gelöste Material auf die Rutschung stürzen und diese unkontrolliert auslösen. Von unten wiederum würde man Gefahr laufen, den stabilisierenden Fuss des Rutsches wegzusprengen. Und das könnte laut Huwiler eine Fliessrutschung oder eine Schuttlawine verursachen, «die Brienz/Brinzauls zerstören würde – für immer».

Denkbar wäre schliesslich sogar das Worst-Case-Szenario: eine Destabilisierung des Plateaus ganz oben am Brienzer Rutsch mit einem Bergsturz bis hinunter zur Albula als potenzielle Folge.

Brienz-Brinzauls wird schon länger von Felsmassen bedroht. Hier am 16. Juni 2023.
Bild: Michael Buholzer/ Keystone

Immerhin, die Tür für die Sprengoption bereits jetzt komplett zumachen will der Kanton trotzdem nicht. Gemäss Huwiler wird eine auf Grosssprengungen spezialisierte Firma sämtliche infrage kommenden Sprengverfahren einer Prüfung unterziehen. Allerdings dämpfte er am Dienstag allfällige Hoffnungen bereits wieder: «Schon bei einer telefonischen Vorbesprechung wurde klar kommuniziert, dass so etwas technisch nicht machbar ist.»

Verbote, hohe Bussen und keine Feuerwehreinsätze

An der Bevölkerungsinformation vom Dienstagabend sind verschiedene wichtige Punkte in Zusammenhang mit der laufenden Evakuierung von Brienz/Brinzauls zur Sprache gekommen. Hier eine Auswahl:

Wie Gemeindepräsident Daniel Albertin erneut bestätigte, ist die Dauer der Evakuierung nicht vorhersehbar, sie werde aber vermutlich bis im Frühling 2025 dauern. Gemäss Geologe und Frühwarndienstleiter Stefan Schneider wird eine Aufhebung erst möglich sein, wenn sich am Berg «eine wesentliche Veränderung» ergeben hat.

Das über der Sperrzone von Brienz/Brinzauls verhängte Flugverbot für Drohnen soll unter anderem verhindern, dass die Bevölkerung bei ihren Evakuierungsvorbereitungen beobachtet werden kann, wie Pascal Porchet, Chef des kantonalen Führungsstabs, ausführte. Andererseits soll auch ein «Ausspionieren» des Dorfs aus der Luft verunmöglicht werden.

Eine vollständige Räumung der Häuser ist laut Porchet auch diesmal nicht nötig. «Wir gehen immer noch davon aus, dass Sie wieder zurückkehren können.» Die Einheimischen sollen aber beispielsweise die Kühlschränke und Abfallkübel leeren, um bei der Rückkehr nicht auf unliebsame Überraschungen zu stossen.

Wer als aussenstehende Person das ab Beginn der Phase Orange geltende Betretungsverbot für Brienz/Brinzauls missachtet, kann mit Bussen von bis zu 5000 Franken bestraft werden. Es werde erneut eine Videoüberwachung installiert, so Porchet.

Die Selbstsuche von Wohnungen seitens der Brienzerinnen und Brienzer hat Hotline-Betreuer Jürg Marguth zufolge «sehr gut geklappt». Nach wie vor leiste die Gemeinde aber auch Unterstützung bei der Suche, wenn es nötig sei. Mit dem Bereitstellen von Unterkünften engagiert hat sich auch der Verein der Zweitwohnenden auf der Lenzerheide. Das Hotel «Albula und Julier» in Tiefencastel, das derzeit bis zu Beginn der Wintersaison geschlossen ist, stellt zudem Zimmer für die vorübergehende Unterbringung von Betroffenen zur Verfügung.

Die Feuerwehr Albula wird gemäss Kommandant Roland Farrér keine Interventionen im verlassenen Dorf ausführen. «Das Sicherheitsrisiko für unsere Leute wäre viel zu gross», erklärte Farrér auf eine entsprechende Frage aus dem Publikum.

Das Zeitfenster für die geordnete Evakuierung von Brienz/Brinzauls bleibt dank der trockenen Witterung bis am Wochenende offen. Kurz gesagt sei es aber, so Geologe Schneider, «einfach zu gefährlich, sich im Dorf aufzuhalten mit dieser Situation am Berg». Schon kommende Woche drohe das Risiko zu gross zu werden. (jfp)