Sie war Bankerin, heute zieht sie mit den Schafen durchs Land: Wanderhirtin Lea Seeholzer erzählt von ihrer Faszination
Bei strahlendem Sonnenschein sitzt Lea Seeholzer auf einer Holzbank auf dem Motocrossgelände in Hilfikon. «Duke, rechts!», ruft sie dem zweijährigen Rüden zu. Der rennt sofort rechts an der weidenden Schafherde vorbei und treibt einige Abtrünnige zurück zur Herde. «Zu mir!», ruft sie dann, und Duke kommt wieder zur Bank, um sich Streicheleinheiten abzuholen.
Der Bettwiler Schafbesitzer Sandro Wyss nickt anerkennend. «Das Schwierige ist, den Hund so zu schicken, dass er die Schafe nur zusammentreibt und nicht die hintersten die gesamte Herde aufscheuchen. Vor einem Jahr hätte Lea das noch nicht geschafft», sagt er stolz zur 29-Jährigen. «Vor allem nicht, während sie hier gemütlich auf dem Bänkli sitzt», fügt er lachend an.
Man merkt, dass sich Seeholzer und Wyss gut verstehen. Das könnte nach einem Winter, in dem sie jeden Tag mit 1000 Schafen durchs Freiamt gezogen sind, auch anders sein. Aber sie hat viel von Wyss gelernt. Und ist bereit, nächstes Jahr alleine mit den Schafen auf Winterwanderschaft zu gehen, sagt die Zürcher Oberländerin.
«Wenn ich Wanderhirten sah, packte mich das Fernweh»
«Ursprünglich habe ich das KV auf einer Bank gemacht», sagt Seeholzer schmunzelnd, denn das würde man der aufgestellten Hirtin wirklich nicht geben. Später wechselte sie in den Service. Das gefiel ihr gut. «Aber irgendwo im Hinterkopf hatte ich seit meiner Kindheit den Traum, mit Schafen durchs Land zu ziehen.»
Als sie noch klein war, hatte sie eine Nachbarin, die einen Border Collie und später auch Schafe besass. «Ich war oft mit ihr unterwegs. Und immer, wenn ich Wanderhirten sah, packte mich das Fernweh.» So folgte Seeholzer ihrem Herzen.
Sie hatte Glück: «Es ist nicht selbstverständlich, dass ich, die neu im Gewerbe bin, eine solche Chance erhalte.» Auf der Website www.zalp.ch fand sie, was sie suchte: «Sandro brauchte per Januar jemanden, der den Rest der Wintersaison mit ihm und den Schafen mitgeht.» Er hatte das Arbeitsverhältnis mit einer anderen Hirtin aufgelöst. «Perfekt für mich.»
Nächstes Jahr möchte sie den Wohnwagen mitnehmen
Sie war so begeistert, dass sie diese Saison sofort wieder mitging. Wyss sagt: «Ich bin mit Schafen aufgewachsen und musste nur lernen, worauf es beim Wandern ankommt. Sie dagegen musste erst lernen, die Tiere zu lesen.» Er habe aber keine Bedenken, sie nächsten Winter alleine mit den Schafen loszuschicken.
Wyss berichtet: «Diese Saison haben wir eine kürzere Runde gemacht, weil die Weiden so gut waren, dass wir weniger schnell vorangekommen sind. Auch sind wir, weil es so viel Gras gab, statt Anfang Dezember erst am 29. Dezember losgezogen. Und wir dürften bis am 15. März ziehen, aber weil es so früh warm geworden ist und damit die Bauern nicht mit dem Düngen warten müssen, hören wir heute, am 11. März, auf.» Sie kamen nicht weiter als bis Tägerig und Dintikon.
Die Route von Hirtin Lea Seeholzer
So konnte Wyss jeden Abend zurück nach Bettwil zu seiner Frau und den beiden Kindern. Seeholzer war in ihrem Wohnwagen in der Scheune der Familie einquartiert. «Aber nächstes Jahr möchte ich den Wohnwagen dabeihaben und auch nachts bei den Schafen bleiben», sagt sie. Angst habe sie keine. «Ich habe meinen Hund, der beschützt mich im Notfall.»
«Mit dem Wolf müssen wir zu leben lernen»
Und wie ist es mit der Angst vor dem Wolf? Wyss sagt: «Ich glaube, mit dem müssen wir zu leben lernen.» Er hat auf offizielle Herdenschutznetze umgestellt und versichert sich jeden Abend, dass genug Strom drauf ist. «Ausserdem schauen wir, dass die Schafe sich tagsüber satt fressen, damit sie nachts ruhig liegen, in der Hoffnung, dass sie für einen Wolf uninteressant sind.»
Aber im Grunde findet er: «Man müsste das Gesetz so ändern, dass die Problemwölfe geschossen werden, während die anderen weiterleben dürfen. Für Herdenschutzhunde sind die Leute hier im Flachland einfach nicht bereit, wie das Beispiel in Uezwil gezeigt hat.»
Zurück zum Leben als Wanderhirtin. Wie war das für Seeholzer? Grinsend sagt sie: «Man stellt sich das romantisch vor. Und wirklich: Wenn du den Schafen beim Weiden zusiehst und im Hintergrund die Sonne mit leuchtendem Abendrot untergeht, ist das schon fast kitschig.»
Gab es auch harte Tage? «Ich hätte es mir schlimmer vorgestellt. Bei Schnee und Regen kann man sich im Wohnwagen aufwärmen.» Die Arbeit sei abwechslungsreich. «Man redet mit den Bauern, das ist manchmal wirklich schön. Dann habe ich Duke, den wir für die Saison ausgeliehen haben, ausgebildet, Nachtzäune aufgebaut und geschaut, dass die Schafe beim Wandern keine Fruchtflächen beschädigen.»
Und natürlich kamen, besonders bei schönem Wetter, oft Leute vorbei, die mit der sympathischen Hirtin plaudern wollten. «Man beantwortet manchmal schon den ganzen Tag dieselben Fragen. Aber es ist auch schön, denn an anderen Tagen bist du ganz allein mit den Tieren.»
«Oh, da kommt der Kaffeelieferservice»
Im Sommer will Lea Seeholzer zurück in den Service. Und die Zeit mit ihrem Freund geniessen. «Während der Saison habe ich ihn nur einmal pro Woche gesehen, wenn ich daheim übernachtet und Wäsche gewaschen habe», erzählt sie. «Aber er findet es toll, dass ich meinen Traum auslebe. Und es sind ja nur zweieinhalb bis dreieinhalb Monate.»
Mitten in der Erzählung fährt ein Auto vor. «Da kommt der Kaffeelieferservice», lacht Seeholzer. Tatsächlich: Der Villmerger Sepp Fischer bringt einen Korb mit Thermoskanne und Kaffeezubehör. Der 72-Jährige erzählt: «Das mache ich sicher schon 40 Jahre. Früher kochte ich den Hirten in der Gegend manchmal Mittagessen, heute bringe ich ihnen fast täglich ein Kafi. So komme ich an die frische Luft, und sie freuen sich.» Auch solche liebenswürdigen Gesten gehören zum Leben einer Wanderhirtin.