Sie sind hier: Home > Literatur > Der neue Roman von Thomas Hürlimann: eine vergebliche Suche nach dem verlorenen Schatz 

Der neue Roman von Thomas Hürlimann: eine vergebliche Suche nach dem verlorenen Schatz 

In «Der Rote Diamant» kehrt der Autor in die Klosterschule zurück, die ihm einst den Glauben ausgetrieben hat.

Mit solchem Gebrause ist in der Schweiz schon lange kein Roman mehr angekündigt worden. Liest man all die Vorab-Interviews mit Thomas Hürlimann, könnte man glauben, es handle sich nicht nur um ein Buch des Jahres, sondern um eines für die Ewigkeit. Ob der Niedergang des Katholizismus oder das Verschwinden der vertrauten Schweiz oder der fatale Siegeszug des deutschen Idealismus: In diesem neuen Roman scheint es buchstäblich um Gott und die ganze Welt zu gehen.

Mit entsprechender Vorfreude schlägt man das Buch «Der Rote Diamant» auf. Da tritt der Ich-Erzähler gleich zu Beginn als Zögling in das Klostergymnasium ein, unschwer als Einsiedeln zu erkennen, wo Hürlimann Schüler war. Sein Erzähler ist jetzt nur noch die Nummer 230, trägt eine schwarze Kutte und Sandalen, die schon Zöglinge vor ihm getragen haben.

Im Kloster verliert der Zögling seinen Glauben

Nur selten erfahren die Zöglinge, was sich draussen anbahnt. Es sind die unruhigen Sechzigerjahre. Im selbstgebastelten Radio singt Bob Dylan «The Times They Are a-Changin’». Ab und zu lässt sich der Klosteralltag mit einem Joint, einem Mädchen oder linksrevolutionären Gedanken auflockern. «Vom Glauben jedoch», schreibt der Zögling, «war ich abgefallen, wie die meisten unserer Klasse.»

Thomas Hürlimann gelingen wunderbare Passagen über dieses Neben- und Gegeneinander von Klosterwelt und Aussenwelt: In den aufbruchwilligen Sechzigern formieren sich «Progressive Mütter», die das Stiftsleben reformieren wollen und täglich einen Apfel für jeden Zögling verlangen. Der Vorsteher Bruder Frieder, ein ehemaliger Nazi und Stalingrad-Kämpfer, verzweifelt ob dieser Zumutungen der Zivilisation.

Doch der Klosterschüler-Strang trägt nicht einen ganzen Roman lang. So ist es für die Spannung nur von Vorteil, dass Hürlimanns Held bald das Gerücht zu Ohren kommt, im Kloster sei ein Roter Diamant aus dem Thronschatz der untergegangenen Donaumonarchie versteckt. Gibt man heute bei Streamingdiensten das Stichwort «Diamant» ein, wird man von dem Angebot an Abenteuer-Serien und Schatzsucherfilmen erschlagen. Braucht es da wirklich noch neue Romane zu diesem Sujet?

Es ist, wie wenn man sich nach Jahrzehnten wieder einmal in die alten Schatzsucher-Schmöker aus der Jugendzeit vertieft. Damals fragte man nicht nach einem ernsteren Sinn. Man fahndete und rätselte einfach fröhlich mit, wurde Teil des Suchtrupps.

Bei einem Autor vom Format Hürlimanns stutzt man dagegen, wenn er uns unbekümmert auf eine Suche nach dem verlorenen Diamanten mitnimmt, so opulent und bildmächtig er von den Irrgängen und Katakomben des Klosters erzählen kann, bis ganz hinunter in jene unterirdischen Gewölbe, in denen zwischen den Knochenbergen der einstigen Klosterbewohner Heere von Ratten hausen.

Kann man seine Pubertät ein zweites Mal ausleben?

Warum verliert sich Hürlimann so abgrundtief in diesem Schatzsucher-Motiv, das so abgelatscht ist wie die Sandalen, die sein Erzähler tragen muss? Lässt sich damit der Stein der Weisheit wirklich neu entdecken?

Nein. Die schier endlose Suche nach dem Diamanten ist keine Proustsche Recherche nach der verlorenen Zeit. Entsprechend unwillig folgt man dem Autor. In «Der rote Diamant» scheint der 71-jährige Thomas Hürlimann seine Pubertät ein zweites Mal auskosten zu wollen. Oder eine zweite Pubertät, da seine Gesundung nach schwerem Krebs wie ein neues Leben anmuten muss.

Es geschieht in Hürlimanns Stiftsroman aber ein Wunder. Gegen Ende, als man schon nicht mehr daran glaubt, gibt der Autor die naive, weil kaum gebrochene Optik des Zöglings auf. Nun erzählt er als alter Mann, der an die Ausbildungsstätte von einst zurückkehrt. Die Stiftsschule hat den Betrieb längst eingestellt.

Plötzlich zieht einen die Melancholie des Romans in ihren Bann. Einmal fällt die These der alten Griechen: «Hinter uns liegt die Zukunft, vor uns die Vergangenheit.» Das trifft auf den Erzähler zu, der sich ins verlassene Kloster hineinschleicht und dort alte Schulkumpane trifft. Obwohl die einstige Klosterschule ausgestorben ist, beginnt nun atmosphärisch alles aufzuleben.

Aber zu spät, um den ganzen Roman zu retten. Damit kann Thomas Hürlimann nicht einmal die diamantene Hochzeit mit seiner grossen Liebe, dem Schreiben, feiern.