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Freipässe für Killer und Millionen-Löcher in der Staatskasse: Was Begnadigungen alles anrichten können

Jeder Staat auf der Erde kennt irgendeine Form von politischer Amnestie oder Begnadigung, meist durch Staatspräsidenten oder gekrönte Häupter. Wobei schon mal die Notbremse gezogen werden muss.

Selbst russische Medien und Behörden können das Problem nicht länger verschweigen: Zu Hunderten begehen aus dem Ukraine-Kriegsdienst in die Heimat zurückgekehrte Ex-Sträflinge Morde und schwerste Verbrechen. Im März unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, welches Straftäter begnadigt, wenn sie einen Vertrag mit dem Militär abschliessen. Er machte damit jene Rekrutierungen in Straflagern formell legal, die bereits Wagner-Söldnerführer Jewgeni Prigoschin initiiert hatte.

Nach mehr als 1000 Tagen Krieg sind von rund 50’000 aus der Haft entlassenen und heimgekehrten «Kriegsfreiwilligen» rund ein Drittel wieder straffällig geworden. Das schrieb jüngst die NZZ und berief sich dabei auf dieNGO Russland hinter Gittern.Das russische Online-Portal Verstka zählte vor Monatsfrist mindestens 242 Zivilisten, die durch heimgekehrte Soldaten getötet worden sind. Weitere 227 wurden schwer verletzt.

Es ist dies das bestimmt prominenteste Beispiel von politischer Amnestie in jüngster Zeit. Und eben eines mit verheerenden Auswirkungen auf die russische Zivilgesellschaft. Wer die künstliche Intelligenz nach einem Staat befragt, der keine Form der Begnadigung kennt, erhält zur Antwort: «Obwohl es theoretisch möglich ist, dass es ein Land gibt, das keinerlei Form der Begnadigung kennt, ist es in der Praxis äusserst unwahrscheinlich.»

Als (aussen-)politisches Mittel wird sie besonders von Autokraten geschätzt. Putins weissrussischer Bundesgenosse Alexander Lukaschenko begnadigte Ende Juli den zum Tode verurteilten deutschen Sanitäter Rico K. und liess ihn im August austauschen, was ihm Punkte auf internationalem Parkett eintrug. Im September liess er mit grosser Geste weitere 30 politische Gefangene frei. Das bewog selbst die prominente inhaftierte Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa, «über ein Gnadengesuch an Lukaschenko nachzudenken», wie ihr Vater kürzlich bestätigte.

Auf drakonische Bestrafungen folgt punktuelle Milde

Machterhalt durch drakonische Bestrafungen und dann punktuelle Milde, wenn der Unmut in der Bevölkerung zu gross wird – dieses Prinzip wendet gerne auch das Mullah-Regime im Iran an. Im Frühjahr 2023 kündigte Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei laut Staatsmedien an, mehr als 80’000 Gefangene begnadigt zu haben.

Die Massen-Begnadigung wurde kurz vor dem Jahrestag der Islamischen Revolution von 1979 angekündigt und soll auch inhaftierte Personen der Frauen-Aufstandsbewegung umfasst haben. Die hohe Zahl der Freilassungen wird jedoch von Menschenrechtsorganisationen angezweifelt, und die Protestbewegung weiterhin mit Polizeigewalt unterdrückt.

Tragikomische Züge nahm die Amnestiefrage in Frankreich an. Seit der Gründung der Fünften Republik wurde es zur beliebten Tradition, dass frisch gewählte Präsidenten zum Amtsantritt sämtliche Verkehrsbussen erliessen. Das führte alle sieben Jahre nicht nur zu einem spürbaren Anstieg der Verkehrstoten, wie Versicherungsgesellschaften statistisch belegten, sondern riss auch erhebliche Löcher in die Staatskasse.

Beim Regierungswechsel 1995 sollen Strafzettel in der Höhe von 300 Millionen Franken unbezahlt geblieben sein, sieben Jahre später bereits mehr als das Doppelte. Medien und Bürgeraktivisten beklagten 2001, dass bereits acht Monate vor der Neuwahl die Zahlungsmoral der Verkehrssünder derart in den Keller gefallen war, dass sich alleine bei den Pariser Inkassobüros der Polizei drei Millionen unbezahlte Bussen stauten – rund die Hälfte aller geahndeten Verkehrsdelikte.

Staatspräsidenten wie Jacques Chirac nutzten zudem den Nationalfeiertag am 14. Juli, um Frankreichs überfüllte Gefängnisse von Kleinkriminellen zu entleeren. In seinem letzten Amtsjahr 2006 profitierten rund 3500 von insgesamt 86’000 Strafgefangenen von dieser Amnestie.

Nicolas Sarkozy setzte den Schlusspunkt hinter eine lieb gewonnene französischen Tradition.
Bild: AP/Remy De La Mauviniere

Erst sein Nachfolger Nicolas Sarkozy schob dieser Tradition einen Riegel. Der Law-and-Order-Politiker, der sein Amt mit dem Wahlversprechen angetreten hatte, Frankreichs Banlieues «mit dem Hochdruckreiniger zu säubern», verzichtete 2007 demonstrativ auf jegliche Freilassungen. Mit der Verfassungsreform von 2008 nahm sich Sarkozy selbst das präsidiale Recht zu kollektiver Begnadigung.

Zum späten, aber vergeblichen Protest dagegen kam es 2012. Der berühmt-berüchtigte Bankräuber Roger Knobelspiess drohte Staatspräsident François Hollande damit, sich selber einen Finger abzuschneiden, sollte er nicht wieder zur alten Begnadigungskultur zurückkehren. Knobelspiess, der selber 26 Jahre in Gefängnissen verbracht hatte, machte sich als Buchautor und Symbolfigur der Linken einen Namen, indem er immer wieder Frankreichs Haftbedingungen anprangerte.