Ignazio Cassis wird Bundespräsident: Hat das Tessin von seinem Bundesrat bislang profitiert?
Eigentlich hätte Ignazio Cassis am 16. Dezember im Kanton Tessin gefeiert werden sollen. Erstmals seit Flavio Cotti im Jahr 1998 stellt der Südkanton den neuen Bundespräsidenten. Am Mittwoch wird die Vereinigte Bundesversammlung Ignazio Cassis (FDP) ins prestigeträchtige Amt hieven. Wegen der angespannten Lage an der Coronafront wurden die Feierlichkeiten auf den nächsten Sommer verschoben. Eine mehrköpfige Tessiner Delegation um Regierungspräsident Manuele Bertoli (SP) wird am Mittwoch zu Ehren Cassis‘ in Bern weilen.
Seit dem 1. November 2017 ist Cassis, ausgebildeter Mediziner und ehemaliger Tessiner Kantonsarzt, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Nach 18 Jahren Absenz in der Landesregierung sitzt damit erstmals seit Flavio Cotti (CVP) wieder ein Vertreter der italienischsprachigen Schweiz im Bundesrat.
Neat-Tunnel durch Lötschberg dank Ogi?
Bringt ein Bundesrat einem Kanton konkrete Vorteile? Historiker Urs Altermatt, ausgewiesener Kenner der Geschichte des Bundesrats, ist überzeugt, dass Magistraten durchaus etwas für ihre Kantone herausholen können. So habe etwa Flavio Cotti in der Bundesverwaltung die Italianità stark gefördert. Der frühere Schwyzer SVP-Ständerat Peter Föhn vermutet, dass ohne den Kandersteger Adolf Ogi (SVP) niemals ein Neat-Tunnel durch den Lötschberg gebohrt worden wäre. Ignazio Cassis gab sich im Vorfeld seiner Wahl im Interview mit der «Luzerner Zeitung» realistisch:
«Die Tessiner wissen, dass ich als einer von sieben unmöglich alle mehrheitsfähigen Positionen des Tessins durchbringen kann. Aber selbstverständlich legen die Bundesräte auch ein spezielles Augenmerk auf ihre Kantone, das liegt in der Natur der Sache.»
Am Herzen liege ihm die Mehrsprachigkeit. Er sei überzeugt, dass ein Tessiner Bundesrat bei den Verhandlungen mit Italien Vorteile ausspielen könne.
Wichtige Rolle beim Corona-Krisenfenster und beim Steuerdeal mit Italien
CH Media hat sich bei Tessiner Persönlichkeiten umgehört: Was hat Cassis konkret für seinen Kanton erreicht? Tatsächlich unterzeichneten Italien und die Schweiz vor einem Jahr ein neues Steuerabkommen zu den Grenzgängern. «Seine Rolle dabei war sicherlich entscheidend», sagt Luca Albertoni, Direktor der Tessiner Industrie- und Handelskammer. Albertoni betont aber auch: «Ein Bundesrat repräsentiert die ganze Schweiz und arbeitet nicht nur für seinen Heimatkanton. Das ist richtig so.»
Auch der Tessiner Ständerat und SVP-Präsident Marco Chiesa glaubt, dass das Steuerabkommen die Frucht von Cassis Bemühungen sei. Albertoni, Chiesa und der Tessiner Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi erwähnen sodann das sogenannte «Krisenfenster» zu Beginn der Coronapandemie im Frühjahr 2020. Im Nachhinein segnete der Bund die Baustellenschliessung ab, welche das Bundesamt für Justiz zunächst für illegal erklärte. Dank der Präsenz eines italienischsprachigen Bundesrats sei die Landesregierung besser auf die Problematik des Kantons Tessins, der zu Beginn der Pandemie besonders stark unter dem Coronavirus litt, sensibilisiert gewesen, sagt etwa Regazzi.
Bindeglied zur eidgenössischen Politik
Und sonst? Nicht zuletzt erfüllt es Land und Leute mit Stolz, wenn ein Mitglied der Landesregierung aus ihrer Region stammt. Die Bundesräte fungieren dann quasi als direktes Bindeglied zur eidgenössischen Politik. Tessiner Persönlichkeiten betonen, Cassis Präsenz im Bundesrat habe auch Symbolcharakter, erhöhe die Sensibilität für multikulturelle, mehrsprachige Schweiz und stärke den nationalen Zusammenhalt.
Regierungspräsident Manuele Bertoli sagt, auch der Bundesrat profitiere, wenn er dank der Präsenz eines Tessiner Mitglieds einen Einblick in die Realität des Südkantons erhalte. Und: «Wir können ziemlich sicher sein, dass diese Aspekte im Bundesrat nicht vergessen werden.» Das heisst natürlich nicht, dass ihnen immer genügend Rechnung getragen werde. Für Marco Chiesa ist genau das das Problem. «Wir hofften, Antworten zu finden auf die ständig sinkenden Löhne der Einheimischen, der ‹Explosion› der Grenzgänger und der Abwanderungen der klugen Tessiner Köpfe in die anderen Landesteile.» Die Forderungen der Tessiner würden zu wenig erhört.
Sollte Cassis an den Pressekonferenzen auf Italienisch und Deutsch sprechen, analog zu seinen Amtskollegen Alain Berset und Guy Parmelin, welche die neuesten Coronamassnahmen jeweils auf Französisch und Deutsch verkünden? Die Tessiner Persönlichkeiten geben sich pragmatisch. Es liege auf der Hand, dass sich Cassis in einer Sprache ausdrücken müsse, die von den meisten Landesbewohnern verstanden werde. «In gewissen Situationen könnte das Italienisch aber mehr forciert werden», sagt Regazzi. Manuele Bertoli ist auf jeden Fall überzeugt, dass Cassis Präsenz im Bundesrat hilft, die italienische Sprache in der Schweiz zu verbreiten.