In eineinhalb Stunden der Regen eines Monats
Der Anruf von Raphael Nadler, meinem damaligen Stellvertreter, kommt gegen 18 Uhr. Es ist Samstag, der 8. Juli 2017. Ich verbringe das Wochenende mit meiner Frau und den Schwiegereltern in einem Hotel im Schwarzwald. «Ich denke, du musst nach Zofingen kommen», sagt Raphael. «Wir gehen unter.»
Zwei Tage später eröffnete das ZT die Berichterstattung mit diesen Sätzen: «Am Samstag schien die Nacht in Zofingen schon um 16.30 Uhr anzubrechen: Der Himmel war so düster wie kaum je an einem Sommertag. Was folgte, haben selbst ältere Zofingerinnen und Zofinger noch nie erlebt: Über der Stadt entlud sich eine massive Gewitterzelle. Erst ging in zwei Wellen Hagel nieder, dann öffnete der Himmel seine Schleusen und es ergossen sich gewaltige Wassermassen über der Stadt und deren Umgebung. Es kam zu grossflächigen Überschwemmungen, Hangrutschen und Stromunterbrüchen.»
Dieser Text stammt aus der Sonderbeilage «150 Jahre Zofinger Tagblatt» vom 1. Februar 2023, in der jeweils ein Ereignis aus jedem Jahrzehnt seit der ersten Ausgabe des ZT vertieft betrachtet wird.
Auch das ZT-Medienhaus ist geflutet
490 Schadensmeldungen gehen bis zum Sonntagabend ein, hunderte Wohnungen, Garagen, Keller, Tiefgaragen und Unterführungen stehen unter Wasser, 250 bis 300 Rettungskräfte stehen im Dauereinsatz. Allein auf dem Stadtgebiet Zofingen sei mit Schäden in dreistelliger Millionenhöhe zu rechnen, sagt die zuständige Stadträtin Christiane Guyer. Massiv trifft es ausgerechnet die Regionalpolizei: Sieben ihrer neun Fahrzeuge stehen nach dem Gewittersturm unter Wasser.
Der damalige Stadtammann Hans-Ruedi Hottiger spricht im ersten Interview von einem Hochwasser, das Zofingen nur alle 300 Jahre sehe. «In eineinhalb Stunden am Samstagabend hat es so viel geregnet wie fast im ganzen Juli.»
Massiv betroffen ist auch das ZT selbst. Die Redaktion bleibt zwar auf dem Trockenen. Aber erst am Sonntag gegen 12 Uhr gibt es wieder Strom, nachdem die Wassermassen das Kellergeschoss des Medienhauses und das Druckereigebäude geflutet haben. 100 Tonnen Papier sind zerstört; die Montagsausgabe wird auf den Maschinen der AZ Medien AG in Aarau gedruckt.
Auch in den nächsten Tagen beherrscht das Hochwasser die Schlagzeilen im ZT: Betroffene zeigen ihre Keller und Wohnungen, die zu Schlammlöchern geworden sind. In Uerkheim diskutieren die Menschen über ein Hochwasserschutzprojekt, das 2013 in einer Referendumsabstimmung scheiterte. Nun ist das Dorf mit den grössten Schäden «seit Menschengedenken» konfrontiert, wie das ZT schreibt.
Am Dienstag erklärt SRF-Meteorologe Felix Blumer den ZT-Leserinnen und -Lesern, wie der gigantische Gewittersturm möglich wurde: Innerhalb von zwei Stunden entleerten sich vier Gewitterzellen, die sich «wie an einer Perlschnur gezogen» über Zofingen bewegten.
Ein «stiller Held» rettet ein älteres Ehepaar
Am Mittwoch zeigt das ZT auf der Front ein Bild, das berührt: Im Mühlethal steht ein Ehepaar vor seinem komplett zerstörten Haus. Es wird für Monate unbewohnbar bleiben, die beiden müssen in einem Hotel übernachten.
Nur mit sehr viel Glück fordert das Zofinger Jahrhundertunwetter keine Schwerverletzten oder gar Todesopfer. Das ist auch einem damals 52-Jährigen zu verdanken. Er sei der «stille Held», schreibt das ZT. Tatsächlich bewahrt der Mann aus Oftringen ein älteres Ehepaar vor dem Ertrinkungstod: Das Paar ist in einem Lift eingeschlossen, der sich mit Wasser füllt. Das Wasser steht den beiden schon bis über die Hüfte, als der 52-Jährige die Lifttür mit blossen Händen aufreisst und das Paar befreit. Wenig später füllt sich der Lift bis zur Decke mit Wasser.
Am Ende der Woche, als der gröbste Dreck beiseitegeräumt ist, zieht das ZT erste Bilanz. Es gebe ein paar Geschichten, die man lieber nicht erzählen möchte: Etwa «von Arbeitgebern, die Druck auf die Rettungskräfte ausübten, weil ihre Angestellten nicht pünktlich zur Arbeit erschienen». Unter dem Strich ist aber die Solidarität, die viele Betroffene erleben, überwältigend. In Erinnerung bleiben die Heldinnen und Helden, und davon gab es viele, wie das ZT schon damals festhält: «Feuerwehrleute, die pausenlos im Einsatz standen. Hausfrauen, die ihre Küchen zu Kantinen für ganze Quartiere umfunktionierten. Nachbarn, die ungefragt in die Keller von Mehrfamilienhäusern stiegen und dort tagelang und nächtelang halfen, den Dreck wegzuschaufeln.» So ein Unwetter lehre einem mehr als Trocknungsgeräte zu bedienen und Schadenformulare auszufüllen. «Es lehrt uns, was wahre menschliche Grösse ist.»