Bundesrat will Stahlwerke von Winterreserve befreien – Druck kommt auch aus der eigenen Partei
Nein, Industriepolitik betreibt die Schweiz nicht. Industriepolitik oder zumindest die selektive Unterstützung einzelner Branchen, das hat den Beigeschmack des Scheiterns einer französischen Concorde, der deutschen Solarindustrie oder des Schweizer Panzer 68 – eine anrüchige Nähe zur Planwirtschaft fast schon.
Weil aber das Ausland, zuletzt insbesondere die EU und die USA ein deutlich unverkrampfteres Verhältnis zur Industriepolitik an den Tag legte, geraten einzelne Wirtschaftszweige in der Schweiz ins Schlingern. Exemplarisch dafür stehen die Stahlwerke Gerlafingen, die einen grossen Teil ihres rezyklierten Stahls ins Ausland exportieren, welches wiederum seine eigene Stahlproduktion mit Schutzzöllen fördert.
Damit bricht die EU Freihandelsabkommen mit der Schweiz, wie Guy Parmelin (SVP) derzeit missmutig feststellen muss. Aber mehr als in Gesprächen auf eine Lösung hinwirken kann er derzeit nicht. Bis jetzt zeigten die Interventionen des Bundesrats bei der EU keine Wirkung, sagte ein sichtlich enervierter Wirtschaftsminister an seiner Pressekonferenz vom Mittwoch.
Um ohne Sofortmassnahmen dennoch die Schweizer Wirtschaft zu unterstützen, beruft sich der Bundesrat nun auf eine «horizontale Industriepolitik». Diese soll mit guten Rahmenbedingungen darauf hinwirken, dass der Produktionsstandort Schweiz bestehen bleibt. Und selektiert wurde dafür jetzt die energieintensive Industrie.
Hilfe kommt für Betroffene wohl zu spät
Auslöser war eine Motion des ehemaligen Solothurner SP-Ständerats Roberto Zanetti (mit Unterstützung von SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr) aus Gerlafingen, der sich 2022 für die Stahlwerke in seiner Heimatgemeinde starkmachte. Damals standen nicht nur die Schutzzölle der EU im Fokus, sondern auch die hohen Energiepreise.
Weil die Gerlafinger Lichtbogenöfen so viel Energie verbrauchen wie 70’000 Haushalte, erklommen die Stromrechnungen im Zuge der damaligen Energiekrise schwindelerregende Höhen: Mehrmals wurde Kurzarbeit nötig. Die damals aufgebrauchten Reserven seien Schuld, dass nun rund ein Fünftel der Belegschaft ihren Job verliert, sagt das Unternehmen. Per Ende Mai wird eine Produktionsstrasse geschlossen. 95 Arbeitsplätze werden gestrichen.
Die in Aussicht gestellte Hilfe kommt für die Betroffenen wohl zu spät. Sie haben die Kündigung bereits erhalten. In Zukunft aber will der Bundesrat die Schwerindustrie besser unterstützen. Grundlage dafür sieht er vor allem im Klimaschutzgesetz (KIG), welches das Schweizer Stimmvolk vor einem Jahr annahm.
Dieses beinhaltet unter anderem einen Fördertopf, gefüllt mit 1,2 Milliarden Franken für Massnahmen der Wirtschaft zur Dekarbonisierung. Mit Investitionsbeiträgen daraus könne die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Industrie gesichert werden, ist der Bundesrat überzeugt. Anträge dazu sind allerdings frühestens ab 1. Januar 2025 möglich, wenn die Verordnung zum KIG in Kraft tritt.
Opt-Out für Winterstromreserve wird geprüft
Mehr Anlass zur Diskussion geben wird eine weitere Idee, welche Parmelin in Abstimmung mit Parteikollege und Energieminister Albert Rösti derzeit prüft: ein sogenanntes Opt-Out für die Winterstromreserve. Wenn ein energieintensives Unternehmen nicht an das Eintreten einer Mangellage glaubt, soll sich dieses vom Zuschlag der Stromreserve (2025: 0,23 Rappen pro Kilowattstunde) befreien lassen können.
Im Gegenzug müsste das Unternehmen dann bei tatsächlichem Eintreten einer Mangellage auf Strom aus einem Reservekraftwerk verzichten. Dazu sind noch eine ganze Reihe von Fragen offen. Etwa, ob die energieintensiven Unternehmen in einer Mangellage nicht ohnehin kontingentiert würden. Oder ob dann alle anderen mehr bezahlen müssen.
Politik wartet ungeduldig
Offen ist auch, ob sich die breite Politik von Parmelins Ankündigungen besänftigen wird. Während der Solothurner SVP-Nationalrat Christian Imark die Vorschläge vorsichtig positiv bewertet, hält sie der Luzerner SP-Nationalrat David Roth für «teilweise untauglich, teilweise zu zögerlich.» Es brauche eine konsequentere Hilfe, um die Schweizer Industrie zu stützen.
Der Druck ist enorm: Zahlreiche Vorstösse rund um die Stahlindustrie aus unterschiedlichsten Parteien sind traktandiert, nur knapp scheiterte die Idee von Parlamentariern aus betroffenen Kantonen, überparteilich eine ausserordentliche Session zur Industriepolitik einzufordern.
In Solothurn bildet die Politik von links bis rechts eine Allianz zugunsten von Gerlafingen, in der Waadt mit dem ähnlich gelagerten Fall des Glasherstellers Vetropack ebenso. Die zentrale Forderung: eine Schweizer Industriepolitik.