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Junger Schweizer wurde zu Anhänger der Terrormiliz IS – heute sagt er: «Man isoliert sich und vereinsamt»

Drei junge Männer verbreiteten von Winterthur aus Propaganda der Terrororganisation Islamischer Staat. Mindestens einer von ihnen hat sich aber nach einem längeren Gefängnisaufenthalt deradikalisiert. Eine Spurensuche, die mehr als vier Jahre dauerte.

Was bewegt einen jungen Schweizer, mit der Terrororganisation Islamischer Staat zu sympathisieren? Bei Franco* waren es vor allem Anerkennung durch Gleichgesinnte und das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören.

«Anerkennung in der Szene war ganz klar der Hauptbeweggrund», sagt er heute, nach zwei Jahren Untersuchungshaft und neun Monaten in relativer Freiheit. Der inzwischen 22-jährige Winterthurer versucht einen Neustart. Die grösste Hilfe sei ihm dabei sein Präventionsmanager und Sozialarbeiter, meint er – neben seiner Freundin und der Familie rund um seine Mutter. Und dazu die psychologische Betreuung.

Eine Wanze führte zur Verhaftung

Der junge Mann ist intelligent, leidet aber an einer diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störung. Wir haben uns Ende 2020 kennengelernt, als ich vor seiner winzigen Sozialwohnung stand. Die Tür war aufgebrochen und nur mit grünem Klebeband notdürftig repariert – nach einer Polizeirazzia. Der Konvertit wirkte durch den unangekündigten Besuch überrascht, liess sich aber nach und nach auf Diskussionen ein.

Franco begann, erstaunlich offen über seine IS-Ideologie zu sprechen. Er hatte Ticks und verhielt sich zwanghaft, auch wirkte er schüchtern und sprach undeutlich. Gemobbt wurde er deswegen schon in der Schule. Aufgewachsen in der Ostschweiz, kam er nach der Trennung seiner Eltern als Landei nach Winterthur. Er fing an, sich für den Islam zu interessieren und wurde schliesslich in einem heimlichen Gebetsraum in Winterthur radikalisiert. Eine Hauptrolle spielte dabei ein junger IS-Rückkehrer aus Syrien.

Seit dem Treffen an Francos aufgebrochener Wohnungstür blieb der Kontakt zwischen uns erhalten. Einmal, noch vor seiner Verhaftung, wollte das Winterthurer Sozialamt Franco als Hilfserzieher in einem Waldkindergarten arbeiten lassen. Francos Kommentar damals: «Würdest du einen wie mich wirklich auf kleine Kinder loslassen?»

Zum Verhängnis wurde ihm und seinem mutmasslichen Komplizen Enrico* unter anderem eine von der Polizei in Francos Wohnung platzierte Wanze. Ausserdem war in Deutschland belastendes Material auf dem Handy eines verurteilten Terroristen gefunden worden. Dieser Mann tauschte sich häufig mit den Winterthurern aus und quartierte sich sogar einen Monat lang in Francos Ein-Zimmer-Wohnung ein.

Vor Problemen in die Religion geflüchtet

Über seine Zeit als IS-Sympathisant sagt Franco rückblickend: «Es ging mir psychisch sehr schlecht, weil ich mich so isolierte und deshalb vereinsamte. Ich war mir selbst scheissegal und bin vor meinen Problemen davongelaufen.» Enge Freundschaften habe er in der Szene aber nie knüpfen können. «Dort interessierte es niemanden, wie es mir ging.»

Franco in der Cafeteria der Moschee von Neuhausen im Jahr 2021.
Bild: zvg

Der IS trichtert seinen Anhängern ein, dass das Diesseits nur insofern eine Rolle spiele, als man sich darin Belohnungen oder eben Höllenfeuer im Jenseits verdienen könne. Typische Probleme von Heranwachsenden und psychisch labilen Personen werden von islamistischen Rattenfängern instrumentalisiert, um Zielpersonen von ihrer bisherigen Umgebung und Familie zu trennen – und damit empfänglicher für Indoktrination zu machen. Mit der Hinwendung zu Allah sollen alle weltlichen Probleme bedeutungslos werden.

Die Bundesanwaltschaft wirft Franco und seinem inzwischen 29-jährigen Kollegen Enrico nicht nur vor, Sympathien für den IS gehegt zu haben, sondern vollwertige Mitglieder der Terrororganisation gewesen zu sein. Noch am Tag seiner Verhaftung sei Franco vom IS sogar zum Anführer einer Kompanie ernannt worden. Diese habe allerdings nur aus einer Handvoll Männern bestanden und den Auftrag gehabt, den «medialen Dschihad» im deutschsprachigen Raum zu führen. Sämtliche Vorwürfe gelten vorerst als unbewiesen.

Mit Bitcoin den IS unterstützt?

In den abgehörten Gesprächen unterhielten sich die Beschuldigten über Kanäle, die Franco, Enrico und ein dritter Winterthurer über den Messengerdienst Telegram betrieben. Diese waren alle nach demselben Muster gestrickt: Nachrichten des IS, meist Meldungen über militärische Erfolge oder Hinrichtungen von Andersdenkenden, wurden aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Wie bei allen Kanälen, die bei Telegram durch die Winterthurer mit Nachrichten gefüttert wurden, gab es aber nur sehr wenige Abonnenten, im schlimmsten Fall gerade einmal 376. Indizien, dass die Winterthurer Terroranschläge planten, gab es nie.

Die Bundesanwaltschaft wirft Enrico und Franco weiter vor, dass sie Spenden gesammelt und damit an Billettautomaten der SBB Bitcoin im Wert von fast 13’000 Franken gekauft hätten. Diese seien dann an verschiedene Zieladressen überwiesen worden. Um herauszufinden, wo das Geld landete, musste die Bundesanwaltschaft die Hilfe der amerikanischen Behörden in Anspruch nehmen. Von dort kam dann die Information, dass es sich bei den Empfängern mehrheitlich um Personen und Organisationen handle, die dem IS naheständen.

Die Bundesanwaltschaft vermutet, dass die Gelder dafür verwendet worden seien, in Syrien gefangengehaltene IS-Mitglieder zu befreien. Ein Teil des Gelds soll beispielsweise eine Deutsche erhalten haben, die zeitweise in einem Flüchtlingscamp in Syrien festgehalten wurde und einen Telegram-Kanal namens «A Rose in Sham» (eine Rose in Syrien) betrieb. Die Frau soll nicht nur zu Spenden für bedürftige Frauen und Kinder aufgerufen, sondern auch Gelder zum Freikauf von gefangenen IS-Kämpfern gesammelt haben. Enrico habe sogar nach Syrien reisen wollen, um ausgerechnet diese Frau zu heiraten.

Dazu kam es aber nicht mehr, denn Enrico und Franco wurden in koordinierten Aktionen verhaftet. Zeitgleich fanden Razzien im Kanton St.Gallen und im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz statt.

«Übungsräume» statt Moscheen

Wie Franco konvertierte auch Enrico zum Islam und radikalisierte sich zusehends. Dass er zu einem internationalen Netzwerk von IS-Anhängern gehört, vermuteten die Behörden schon lange. So traf er sich im Juni 2020 mit einem Dschihadisten in Wien, der dann im November desselben Jahres im Wiener Stadtzentrum einen Terroranschlag im Namen des IS verübte. Vier Menschen wurden dabei ermordet. Mit dem Attentat hatte Enrico allerdings nichts zu tun. Der ehemalige Postangestellte wurde in der An’Nur-Moschee in Winterthur radikalisiert. Diese ist seit Sommer 2017 geschlossen.

Seither beteten die Winterthurer IS-Anhänger vornehmlich in Privaträumen. Dazu gehörten auch sogenannte «Rümli»– Hobbyräume, die sich die Fanatiker unter Vorwänden mieteten. So gaben sie an, sich dort Videospielen oder Kraftsport widmen zu wollen. Manchmal trafen sich die Extremisten auch in Francos Sozialwohnung zum Gebet.

Das vorerst letzte «Rümli», in dem Winterthurer Islamisten mit Gleichgesinnten aus der halben Schweiz zusammenkamen, befand sich in einem gesichtslosen Mehrfamilienhaus mit drei Stockwerken im sankt-gallischen Bazenheid. Die Islamisten, unter ihnen auch IS-Anhänger aus Winterthur, trafen sich in dem Raum, um zu beten und sich zu vernetzen. Auch Franco tauchte mehrmals in Bazenheid auf, wie ein Polizist dieser Zeitung anvertraute. Der Hobbyraum war inzwischen zu einer vollwertigen Untergrundmoschee umgebaut worden.

Endlich auf dem richtigen Weg?

Bereits in der langen Einzelhaft und vor allem seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis hat sich Franco seinen Dämonen gestellt und sich deradikalisiert. Natürlich kann man nie sicher sein, was im Kopf eines Beschuldigten vorgeht. Es könnte alles auch nur Theater sein, um die Richter am Bundesstrafgericht zu einer milderen Strafe zu bewegen.

Franco und Corinne bei einem Spaziergang.
Bild: zvg

Doch Franco hatte nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft Glück: Seine Mutter nahm ihn in ihrer Wohnung auf, und durch seine Schwester hatte er wieder Kontakt mit Corinne*, die heute seine Freundin ist.

Wir treffen uns zu dritt in einem Einkaufszentrum, zu zweit beim Bubble Tea in Winterthur und zu Hause bei seiner Mutter. Franco muss nun im Haushalt mithelfen, er hat einen Teilzeitjob in einer sozialen Institution und sagt, dass er endlich eine Berufslehre absolvieren wolle. Seit längerem bete er nicht mehr. Von Zwanghaftigkeit und Tics merkt man kaum noch etwas, Franco tritt selbstbewusster auf als früher. «Ich hatte im Gefängnis viel Zeit nachzudenken», sagt er. Am 17. März beginnt sein Prozess in Bellinzona.

* Name geändert