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«Holla, Freunde, wird da die weisse Fahne schon ausgerollt?»: Warum Andreas Rödder den Bürgerlichen rät, ihre Scheu vor dem Kulturkampf abzulegen

Der Historiker Andreas Rödder ist derzeit einer der interessantesten konservativen Denker in Deutschland. Bewegungen wie «Fridays for Future» wirft er vor, die bürgerliche Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen. Die politische Mitte müsse die Herausforderung annehmen. 

Herr Rödder, Sie sind derzeit einer der auffälligsten konservativen Intellektuellen in Deutschland …

Andreas Rödder: Darf ich gleich einhaken? Ich verstehe mich als einen Liberalkonservativen in der Tradition Edmund Burkes. Er stand für einen reformorientierten Konservatismus, der nicht am Status quo festhalten wollte. Jeder aufgeklärte Konservative weiss, dass das vergangene Paradies keines war. Die Frage ist, wie man den Wandel so gestalten kann, dass die Menschen mitkommen.

Wie wurden Sie liberalkonservativ?

Als ich mich mit den englischen Konservativen des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Bei deren reformorientiertem Ansatz sprach mich die inhärente Menschenfreundlichkeit an. Was mich immer abstiess, ist die schneidende Kälte eines Denkens in den Kategorien Carl Schmitts. Andererseits lehne ich die Idee eines neuen Menschen ab. Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, und daraus gerade Balken zu machen, kann nicht funktionieren.

Es brauchte die Beschäftigung mit britischen Denkern, um Sie zu überzeugen. Ist der deutsche Konservatismus intellektuell unattraktiv?

Seine Geschichte ist sicher weniger attraktiv. Einerseits wegen des Sündenfalls der deutschen Konservativen, Hitler ins Amt zu verhelfen. Aber auch der preussische Konservatismus ist kein Selbstbedienungsladen an historischen Vorbildern. Der englische Konservatismus ist da ganz anders: Meine Helden sind etwa der sprunghafte, auch etwas schrille Benjamin Disraeli oder der 14. Earl of Derby, der einmal sagte, die Menschen bildeten sich ein, der Konservatismus sei etwas Stationäres, tatsächlich gehe es aber um die Verbesserung des Bestehenden.

Historiker mit Mission

Unter den deutschen Historikern dürfte er derzeit zu den einflussreichsten zählen: Letztes Jahr wurde Andreas Rödder von Friedrich Merz, dem Chef der deutschen Christdemokraten, zum Leiter der Kommission «Wertefundament und Grundlagen» der Partei berufen. Rödder ist seit 2005 Professor für Neueste Geschichte in Mainz; derzeit lehrt der 55-Jährige als Gastdozent an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung zählen der europäische Konservatismus und die Weimarer Republik. (hfm)

Konservativ sein heisst also, dass man dann etwas ändert, wenn man sicher ist, dass das Neue eine Verbesserung darstellt?

Ein Konservativer weiss, dass Sie etwas Bestehendes, Gutes schneller zerstört haben, als es neu aufzubauen. Er weiss aber auch, dass das, was ist, nie so bleiben kann. Hier eine Abwägung zu treffen, ist eine anspruchsvolle Übung: Zum Habitus des Konservativen gehört auch, den Veränderungsbedarf gelegentlich zu unterschätzen. Man muss sich immer von den Progressiven provozieren lassen.

Konservative und Progressive brauchen einander, und aus der Reibung entsteht Fortschritt?

Das ist so, auch wenn man es in der konkreten politischen Auseinandersetzung meist nicht sieht, sondern erst, wenn man einen Schritt zurücktritt. Mein Lackmustest ist Abraham Lincoln: Wäre ich 1863 im Team Lincoln gewesen und hätte die Sklavenbefreiung mitgetragen oder hätte ich den Veränderungsbedarf übersehen?

Würden Sie es wagen, die Frage für sich zu beantworten?

Ich will mich nicht hinstellen und behaupten, dass ich Lincoln mit Sicherheit unterstützt hätte; ich kann es nur hoffen. Das ist der Stachel in meinem Fleisch.

Ist der gute Konservative immer auch ein Zweifler?

Ja, aber ein gelassener Zweifler. Er weiss, dass niemand die Wahrheit gepachtet hat. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Konservativen und dem Progressiven oder Linken, der meint, die Wahrheit zu kennen. Der Konservative weiss dagegen, dass das, was wir heute für unumstösslich halten, morgen furchtbar falsch erscheinen kann. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass es Demokratie braucht: weil unvollkommene Ideen nur durch den Wettbewerb besser werden. Die eigenen Ideen einfach zu implementieren, das ist die totalitäre Versuchung der Linken.

Viele Konservative in Deutschland und der Schweiz nennen sich lieber «bürgerlich». Wie würden Sie die beiden Begriffe gegeneinander abgrenzen?

Beides liegt nahe beieinander. «Konservativ» würde ich über das Menschenbild definieren, über den Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat. «Bürgerlich» würde ich eher über Inhalte definieren, etwa Selbstverantwortung und Selbstbestimmung. Hinzu kommen Rechtsstaat, Wettbewerb und Offenheit gegenüber Technologien. Bürgerlich sein heisst aber auch, Pluralität anstelle von Diversität zu stellen. Pluralismus ist die Vielfalt, die aus der Entfaltung der Individuen kommt, während Diversität nach einer Repräsentanz von Gruppen und damit einer ständischen Gliederung strebt.

Sie sprechen die Identitätspolitik an. Ist das nicht eine aus Amerika importierte Debatte, die mit den meisten europäischen Ländern wenig zu tun hat?

Aber diese Debatte findet doch in Europa längst statt, zuvörderst an den Universitäten! Bei den Sprachnormierungen fängt es an. Und schauen Sie sich den neuen Antirassismusbericht der deutschen Regierung an, der die deutsche Gesellschaft als strukturell rassistisch etikettiert. Dahinter steht diecritical race theory, die besagt, dass weisse Menschen inhärent rassistisch seien. Wenn Sie das einmal akzeptiert haben, sitzt das gesamte Modell der westlichen Gesellschaft in der Falle. Denn entweder versuchen Sie verzweifelt zu beweisen, dass Sie nicht rassistisch sind, was aber der Theorie nach gar nicht geht. Oder Sie akzeptieren die Theorie, dass Sie unwandelbar rassistisch sind – und damit sind Sie moralisch disqualifiziert.

Sie meinen, Konservative müssten beherzt in den Kulturkampf eintreten. Aber besteht nicht die Gefahr, dass man dabei übersteuert? Die Entwicklung der Republikaner in den USA scheint mir eher ein abschreckendes Beispiel zu sein.

Der Begriff «Kulturkampf» wird gerade auf eine eigenartige Weise stigmatisiert. Niemand hat ein Problem mit dem Begriff der «Verteilungskämpfe», die um materielle Güter geführt werden. Genauso ist auch ein Kulturkampf eine politische Auseinandersetzung, nur über kulturelle Gegenstände.Die «Fridays for Future»haben schon 2020 den identitätspolitischen Schulterschluss proklamiert. Eine neue soziale Bewegung stellt die westliche, bürgerliche Gesellschaftsordnung als zerstörerisch und diskriminierend in Frage. Das ist ihr gutes Recht, aber es ist auch die Pflicht der bürgerlichen Mitte, diese Auseinandersetzung anzunehmen.

Um noch einmal auf Amerika zurückzukommen: Sind die Republikaner noch eine konservative Partei?

Die Republikaner sind noch immer eine unglaublich breit aufgestellte Partei. In Washington treffe ich auch viele moderate, antitrumpistische Republikaner. Aber mit dem Sturm auf das Kapitol wurde eine rote Linie überschritten. Ich wünschte mir, die Partei würde das deutlicher sehen. Oft erleben wir, wie amerikanische Entwicklungen mit Verzögerung nach Europa kommen. Unser Ziel muss es sein, das Entstehen eines Trumpismus in Deutschland zu verhindern.

Sehen Sie Ansätze, die auf eine solche Entwicklung hindeuten?

Ich denke eher, es gibt eine zunehmende Unzufriedenheit über den rot-grünen Mainstream und den Bedarf nach einer Gegenbewegung. Die Frage ist, ob diese Gegenbewegung aus der bürgerlichen, demokratischen rechten Mitte kommt oder ob die AfD diese Themen besetzt. Studien zeigen uns, dass Rechtspopulisten einen Sogeffekt auf Leute ausüben, die sich politisch alleingelassen fühlen.

Was könnten europäische Konservative von amerikanischen Konservativen lernen?

Was die Rolle des Staates angeht, einiges: Es haut einen ja um, was man in Europa bereit ist, an Staatsinterventionismus nicht nur zu tolerieren, sondern auch noch zu fordern. Vor allem aber die Streitlust. Der amerikanische Sport kennt kein Unentschieden. Auch wenn wir voller Unverständnis auf die 15 Anläufebei der Wahl Kevin McCarthys zum Sprecher des Repräsentantenhausesgeschaut haben, ist es doch gut, dass man die Auseinandersetzung führt.

Man sollte also weniger Angst haben, dass gleich das ganze Gebäude einstürzt, wenn es einmal scheppert?

Helmut Schmidt hat einmal gesagt, Politik sei immer auch ein Kampfsport. Aber dann höre ich von manchen in der CDU, die Zeit der Polarisierung sei vorbei. Holla, Freunde, was soll denn das heissen, wird da die weisse Fahne schon ausgerollt? Demokratie lebt doch vom Wettbewerb.

Sie haben der CDU einen richtungslosen Pragmatismus vorgeworfen. Aber war sie historisch betrachtet nicht immer eher eine pragmatische als eine konservative Partei? Ihr eigentlicher Wesenskern bestand doch darin, an der Macht zu bleiben.

Pragmatismus und Machtinstinkt der CDU waren immer gross. Schauen Sie auf Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Kohl sagte, er wolle nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen, sondern Wahlen. Adenauer führte eine Rentenreform durch, die Erhard nicht gefallen hat. Der Pragmatismus ist eine Stärke der Union. Aber weder Adenauer noch Kohl haben ihn ausserhalb bestimmter Leitplanken praktiziert: Die Westorientierung stand für Adenauer überhaupt nicht zur Debatte. Wenn Sie nur pragmatisch Probleme lösen, drehen Sie sich im Kreis oder fahren im schlimmeren Fall an die Wand. In Deutschland sehen wir gerade, wohin ein Pragmatismus ohne Strategie führt: In der Sicherheits-, in der Energie- und in der Migrationspolitik stehen wir vor enormen Problemen.

Die Schuld dafür sehen Sie vor allem beiAngela Merkel.Ihre Verteidiger meinen, sie habe der CDU neue Wählerschichten erschlossen. Vergleicht man Merkels Wahlergebnisse mit denen der Sozialdemokraten, scheint sie eher Schlimmeres verhindert zu haben.

Kurzfristig und unter machtpolitischen Gesichtspunkten betrachtet, war Merkel erfolgreich. Aber auf lange Sicht hat sie nicht nur eine orientierungslose Partei hinterlassen, sondern auch strategische Defizite bei der Ausrichtung des gesamten Landes: In Washington werde ich ständig gefragt, wo Deutschland eigentlich ist und wo es hinwill. Hinzu kommen grosse Versäumnisse bei der Infrastruktur und bei der Wettbewerbsfähigkeit.

Sie beraten den CDU-Chef Friedrich Merz. Wenn ich ihn betrachte, frage ich mich manchmal, ob er es überhaupt noch richtig machen kann: Versucht er konservative Wähler anzusprechen, schreien nicht nur die Medien, sondern auch manche seiner Parteikollegen auf.

Merz hat ein starkes Mandat; er wurde von 62 Prozent der Mitglieder gewählt. Die Partei ist aber auch gespalten: In Merkelianer und Nicht-Merkelianer, aber auch in Basis und Funktionäre. Bisher hat es die CDU nicht geschafft, die Spannweite ihrer Positionen wiederzugewinnen, die sie früher so erfolgreich gemacht hat. Heute sehen wir eher ein Gegeneinander als ein gelassenes Miteinander verschiedener Strömungen. Auch dieses Problem geht auf Merkel zurück, weil sie den liberalkonservativen Flügel marginalisiert hat.

Der Intellektuelle als Politikberater, kann das überhaupt funktionieren? Politiker denken meist von Tag zu Tag, während Sie als Historiker eine längere Perspektive einnehmen.

Einfach ist es nicht, und ich weiss, dass manche in der Partei mit den Augen rollen, wenn sie meinen Namen hören. Aber ihre stärkste Zeit hatte die CDU in den Siebzigerjahren, als jemand wie Helmut Kohl, der an sich kein Intellektueller war, Leute in die Partei holte, die diese inhaltlich nach vorne brachten. Wer meint, das seien alles akademische Debatten, irrt: Das bürgerliche Spektrum muss intellektuell satisfaktionsfähig sein, denn die kulturpolitischen Debatten von heute bestimmen die finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen von morgen.