«In Aarau spüren wir keine Klassik-Krise»: So gut geht es Argovia Philharmonic nach einem Jahr in der Alten Reithalle
Sie kamen im Januar 2021 als Intendant zum Argovia Philharmonic und haben ab Juni zu 100% übernommen. Ausgerechnet mitten in der Pandemie. Ein schwieriger Moment?
Simon Müller: Natürlich. Allerdings konnte ich gleich mein Wissen einbringen. Denn bei der Zuger Sinfonietta, wo ich die letzten Jahre arbeitete, haben wir schon im Jahr 2020 mit dem Streamen von Konzerten begonnen. Dennoch war es ein intensiver Start in Aarau mit Corona und all den Massnahmen. Aber auch sehr lernwirksam.
In Zug waren Sie gut vernetzt. In Aarau sind Sie jetzt in der «Fremde»?
Nicht ganz (lacht). Meine Mutter ist in Aarau aufgewachsen, mein Vater in Schönenwerd. Ich habe dort oft meine Grossmutter und eine Tante besucht. Da wohne ich jetzt wieder mit meiner Ehefrau und meinen beiden kleinen Töchtern. Daher ist es eher ein «back to the roots». Gerade an die Abo-Konzerte kommen oft viele Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins. Teils ist es für mich fast ein Familienanlass.
Aber der Wechsel zur Argovia Philharmonic war schon ein grosser Schritt?
In Zug habe ich vieles selber gemacht: Von der Intendanz über das Marketing, bis hin zum Stühle aufstellen vor dem Konzert. Hier habe ich ein ganzes Team um mich. Meine Erfahrung in praktisch allen Bereichen des Sinfonieorchesters hilft mir aber sehr. Und ich durfte das Argovia in sehr gutem Zustand übernehmen. Mein Vorgänger Christian Weidmann hat ja die Abonnementszahlen in wenigen Jahren vervielfacht.
Ihre Vollanstellung fiel dann praktisch mit der Eröffnung der renovierten Alten Reithalle in Aarau zusammen.
Ein absoluter Höhepunkt. Und ein sehr spannender Moment. So hatten wir zum Beispiel zu wenig Licht auf der Bühne. Das gab dann einige Diskussionen, bis wir die ideale Konzertbeleuchtung hatten. Seit dem Start ist die Reithalle aber ein richtiger Publikumsmagnet. Wir haben mehr als 820 Abonnemente in den Bereichen Sinfonie, Kammer- oder Familienkonzerte. Der Raum und seine Weite bieten auch Aufführungsgelegenheiten für grösser besetzte Werke. Da werden wir uns langsam herantasten.
Akustisch musste sich das Orchester und der Raum zuerst aneinander gewöhnen. Gerade am Anfang klang vieles hart. Die Intonation war für die Musiker schwierig.
Dies ist ein normaler Prozess. Wir haben viel gearbeitet und ausprobiert. Einerseits hat unser Dirigent Rune Bergmann den Orchesterklang daran angepasst. Mit flexiblen Deckensegeln haben wir die Akustik etwas entschärft. Auch sitzen die Musikerinnen und Musiker heute weiter weg von der Rückwand, dadurch hören sie sich besser. Gewisse Kompromisse sind allerdings weiterhin nötig. Das Haus wird ja auch vom Theater intensiv genutzt. So müssen wir vor jedem Projekt die Bühne vergrössern und die Parkettstühle hineinbringen. Auch können wir die Bühne nicht beliebig vergrössern. Da verlieren wir Sitzplätze und dafür haben wir einfach zu viele Abos verkauft (schmunzelt). Wir spüren in Aarau die teils beschworene «Klassikkrise» überhaupt nicht.
In Baden besteht allerdings noch Luft nach oben?
Wir sind auch dort in einem für uns neuen Saal, im Kurtheater. Bis zur Pandemie lief es im Trafo Baden gut. Aktuell haben wir aber nicht die gleiche Auslastung. Allerdings hat das Kurtheater auch 100 Plätze mehr. Zusätzlich ist es eine kulturpolitische Diskussion: Das Argovia Philharmonic hat zwar seinen Sitz in Aarau und die Residenz in der Alten Reithalle. Trotzdem sind wir das Orchester für den ganzen Kanton. In Villmergen, Beinwil, Rheinfelden, Zofingen und Muri sind wir sinfonisch unterwegs. In Baden spielen wir neben den fünf Abo-Konzerten auch drei Familienkonzerte und ein Weihnachtskonzert. Das Badener Publikum hat uns aber noch nicht als «ihr argovia phil» aufgenommen. Daran müssen und werden wir arbeiten.
Nationale, oder gar internationale Ambitionen hegen sie gar nicht?
Mittelfristig ist es für uns wichtig, in unserer Region das Publikum zu halten. Es sind aber schon Ideen vorhanden, uns nationaler auszurichten. Gerne gehen wir wieder einmal ins KKL, wo das Konzert 2018 ja ausverkauft war, oder in die Tonhalle Zürich. Wichtiger ist uns jedoch, die nationale Präsenz in den vielen tollen Konzertsälen ausserhalb der grossen Zentren wieder aufzubauen. Die Pandemie hat diese Bestrebungen etwas ausgebremst. Auch das packen wir nun an.
International ausgerichtet sind sie bereits bei den Solisten, wie im letzten Konzert mit Albrecht Mayer.
Es gelingt uns zum Glück immer wieder, Top-Stars in den Kanton zu bringen. Wir stellen aber auch fest, dass unser Publikum wirklich wegen der Argovia Philharmonic kommt und nicht wegen den Solisten. Für die Wahrnehmung national und auch international sind diese jedoch sehr wichtig. Im letzten Mai hatten wir Noah Bendix-Balgley (Violine) und Amihai Grosz (Viola), beide von den Berliner Philharmonikern, zu Gast. Auf Youtube hat dieser Auftritt etwa 13500 views und sehr positive Kommentare. Da sind wir mit der Qualität unter unserem Dirigenten Rune Bergmann auf einem hohen Level unterwegs.