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«Mit dem Weltrettungsgedanken überzeugen wir die Leute nicht» – ein Klimawissenschafter redet Klartext

Wir schauen gerne auf unseren kurzfristigen eigenen Nutzen. Daran ändern auch Unwetter nichts. Klimawissenschafter Reto Knutti ist überzeugt: Man müsse die Leute mit guten Lösungen überzeugen. Diese wären griffbereit – eigentlich.

Einzelereignisse sind kein Beweis für die Klimaerwärmung. Aber bei den kürzlichen Starkregen im Wallis und im Tessin haben viele daran gedacht. Sie auch?

Reto Knutti:Es ist offensichtlich, dass der Klimawandel einer der Treiber dessen ist, was wir jetzt sehen: Starkregen, Hagel, Hitzeperioden, Gletscherschmelze. Wenn der Regen kommt, kommt er fast sintflutartig. Das ist physikalisch verstanden seit mehr als hundert Jahren: Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen, das ist das Prinzip des Tumblers. Schon heute haben in solchen Wetterlagen 19 Prozent mehr Feuchtigkeit in der Luft. Und irgendwo kommt das wieder runter.

Wenn Sie Gemeindepräsident von Zermatt wären, wofür würden Sie mehr Geld ausgeben jetzt: Um dem Triftbach mehr Platz zu verschaffen oder den Solarpanel-Ausbau zu fördern?

Es ist falsch, das gegeneinander auszuspielen.

Es passiert trotzdem. Eine Gemeinde hat ein beschränktes Budget.

Das ist doch, als würde man Altersvorsorge und Autobahnausbau gegeneinander ausspielen. Man muss so stark wie möglich versuchen, den Klimawandel abzumindern und sich gleichzeitig gegen die unvermeidlichen Gefahren wappnen. Es stimmt, dass man jeden Franken nur einmal ausgeben kann. Aber man weiss, dass jeder Franken investiert in die Naturgefahrenprävention schliesslich mehr als einen Franken durch vermiedene Schäden spart – mit einer Rhonekorrektur, einer Lawinenverbauung oder in Zürich, wo gerade die Sihl für 170 Millionen Franken in den See umgeleitet wird, damit sie nicht eines Tages den Hauptbahnhof flutet und die Stadt lahm legt.


Bei den Investitionen gegen die Klimaerwärmung ist der Gewinn nicht offensichtlich, weil die Schweiz nur ein kleines Land ist.

Das Argument ist schwach, weil dieses Argument jede Einzelperson bringen kann und auch jede Gemeinde in China. Und die Schweiz ist keineswegs vorbildlich unterwegs, sondern liegt hinter den Klimaschutzbemühungen der EU. Auch die USA hat ein Netto-Null-Ziel 2050, China 2060. Wir haben in der Schweiz zwar immer das Gefühl, wir seien so gut, aber es ist, abgesehen vom Glasrecycling, schlicht nicht wahr.

Lohnen sich die Investitionen für den Klimaschutz wirklich?

Eine Tonne ausgestossenes CO2verursacht global einen Schaden vonmehreren hundert bis tausend Franken. Nicht hier vielleicht und erst in ein paar Jahrzehnten. Aber diese Tonne zu vermeiden, kostet knapp hundert Franken. Zum Beispiel ist ein E-Fahrzeug heute schon günstiger auf die Lebensdauer gesehen als ein Verbrennungsmotor. Und zwar noch ohne, dass wir die vermiedenen Kosten durch Luftverschmutzung und Klimaschäden einberechnet hätten.

Herr und Frau Schweizer können doch sehr gut rechnen. Warum werden dann immer noch so wenige Elektroautos gekauft?

Das Verschmutzen der Atmosphäre kostet Herrn und Frau Schweizer direkt eben nichts. Heute bezahlt die Allgemeinheit die Luftverschmutzung indirekt über die Krankenkasse und verfrühte Todesfälle. Viele Leute haben vielleicht keine Lust, ein paar zehntausend Franken für ein neues Auto auszugeben. Dazu kommt die fehlende Lade-Infrastruktur: Die Hälfte der Autobesitzerinnen haben keinen eigenen Parkplatz und damit keinen garantierten Anschluss. Und es gibt auch noch die Angst vor Neuem.

Warum hat der CO2-Ausstoss also noch keinen Preis?

Beim Heizöl gibt es einen: 120 Franken als Lenkungsabgabe. Deshalb ist der Wohnungssektor auch am besten unterwegs. Das hat man im CO2-Gesetz auf andere Bereiche auszubauen versucht, aber die Leute haben das nicht gewollt. Wenn eine solche Abgabe auch bei Benzin gelten würde, würden viel mehr Leute auf E-Autos umsteigen. Es könnte mehrheitsfähig sein, dass Vielverbraucher bezahlen und die Wenigverbraucher profitieren.

Ist das fair genug? Gerade Handwerkerberufe erfordern ein Auto.

Man verbietet das Auto ja nicht, nur den Benzinmotor. Oft ist es so, dass Lenkung nur am Anfang nötig ist, bis die neue Technologie billiger geworden ist. So war das mit der Photovoltaik in Deutschland vor zehn, zwanzig Jahren. Dort ist heute kaum eine Subvention mehr nötig.

Die CO2-Reduktion scheint kein gutes Argument zu sein, um etwas zu bewegen. Die Leute sind motivierter, einen Tesla zu kaufen, weil der hip ist. Oder man will vom Erdgas wegkommen, um nicht mehr von Russland abhängig zu sein. Was funktioniert also?

Finanzielle Anreize: Es lohnt sich, ein Haus zu isolieren. Man muss die Leute mit guten Lösungen überzeugen, weil man sie mit Weltrettung nicht überzeugt. Die USA machen das so mit ihrem Inflation-Act. Das hat nichts mit Inflation zu tun, es ist schlicht ein gigantisches Förderprogramm, das dazu dient, dieses Land wieder konkurrenzfähig zu machen und von China unabhängig. Das sind finanz- und geopolitische Argumente.

Was bedeutet das für die Schweiz?

Es ist Eigenwerbung aber ein Franken investiert in die ETH Zürich ergibt etwa fünf bis sechs Franken Wertschöpfung für die Schweiz. Investition in Bildung und Forschung zahlt sich aus. Wir sind nicht reich wegen Schokolade und Emmentaler sondern weil wir fähig sind gute Leute auszubilden. So muss man denken

Das funktioniert nicht in allen Bereichen: Es gibt nicht genug Bio-Fuel, um CO2-neutral in die Ferien fliegen zu können.

Nachhaltiges Kerosin, Sustainable Aviation Fuel (SAF), wird tatsächlich aus begrenzten Rohstoffen produziert: aus Altöl, Grünabfällen oder nicht essbarem Korn. Aber es gibt auch das ETH-Spin-off Synhelion, wo mit Sonnenlicht Treibstoff produziert wird.

Fliegen um jeden Preis: Im nordrhein-westfälischen Jülich errichtet Synhelion die erste Testfabrik für Treibstoffherstellung mit Sonnenenergie.
Bild: Synhelion

Das dauert noch mehr als zwanzig Jahre, bis damit alle Flugzeuge betankt werden können.

Aber wenn wir es wenigstens bis 2050 auf ein Netto-Null-Niveau schaffen, dann erreichen wir unser Ziel. Bis 2030 ist es schlicht unrealistisch, das Energiesystem umzubauen. Wir reden von einem noch nie da gewesenen Technologieumbau in kürzester Zeit. 2030 ist pure Fantasie.

Das bedeutet zwanzig Jahre mehr, in denen CO2in die Atmosphäre gepumpt wird.

Das stimmt. Dennoch sehe ich keinen schnelleren Weg. Die EU und die Schweiz zwingen die Airlines ab nächstem Jahr ihrem Kerosin zwei Prozent Bio-Fuel beizumischen. Diese Quote soll sukzessive gesteigert werden. Gleichzeitig wird die Infrastruktur aufgebaut, zum Beispiel im Nahen Osten, wo es Platz und Sonne hat. Dann schaffen wir es bis 2040 tatsächlich. Ganz ehrlich: Wir werden das Fliegen nicht vollständig eliminieren, das ist völlig illusorisch. Dazu gibt es zu viele Leute, die global vernetzt sind und reisen wollen.

In den 1960er-Jahren reisten die wenigsten mit dem Flugzeug in die Ferien. Man hatte wohl kaum das Gefühl, am Strand in Rimini etwas zu verpassen oder sich nicht genug erholen zu können.

Ja, aber es ist schwierig, das Fliegen allen Leuten zu verbieten. Ich bin kein Technologiefreak – es sind nicht all unsere Probleme damit lösbar. Der Mensch ist einfach selten bereit, für einen globalen Nutzen auf etwas zu verzichten. Wenn das so bleibt, dann bringt Technologie den grössten Nutzen.

Sie erachten Flugferien als unumstösslich. Dabei sind wir gestresst, und der Stress wird nicht weniger, wenn wir in der Welt herumjetten und möglichst viel konsumieren.

Für mich sind Wanderferien in der Schweiz Lebensqualität. Für viele andere aber nicht. Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, das nichtkonsumbasierte Lebensmodell mehrheitsfähig zu machen. Es gibt immer mehr Leute, die so denken, aber mehr als zehn oder zwanzig Prozent sind das nicht. Oder sie machen sich was vor: Sie recyceln den Plastik und fliegen dafür nach Australien. Deshalb kann man fossile Energien nur verbieten, verteuern oder eine bessere Alternative bieten.

Oder man rechnet richtig. Aus dem Ausland wird jährlich für bis zu 10 Milliarden fossile Energie importiert. Selber herstellen wäre doch günstiger?

Das stimmt, wenn auch der Umbau des Energiesystems nicht gratis ist: Solarausbau, Wasserkraftausbau, Netzausbau. Aber tatsächlich können solche Investitionen langfristig Kosten sparen oder man hätte das Geld sowieso ausgeben müssen, um die Infrastruktur zu erneuern.

Das Stromgesetz wurde im Juni vom Volk immerhin mit grosser Mehrheit angenommen.

Aber damit ist noch kein einziges Wasserkraftwerk und keine Windturbine gebaut. Die Grabenkämpfe in der Umsetzung werden gross sein. Jetzt heisst es dann überall: «Ja, ja, gut, aber nicht hier, und zahlen will ich auch nicht.»

Träumen Sie manchmal davon, in einem totalitären Land zu leben, wo solche Transformationen einfach durchgepaukt werden können?

Nein, um Gottes willen! Die Schweiz hat mit ihrer direkten Demokratie viele Qualitäten: Wenn eine Mehrheit gefunden ist, wird es dann auch von allen mitgetragen. Das macht das System stark. Nur ist es für schnelle Entscheidungen nicht geeignet und für radikal neue Ideen auch nicht. Wir haben immer das Gefühl, wir könnten bewahren, was mal war. Dabei ändert sich die Welt brutal schnell.

Und dann verschliesst sich der Mensch.

Ja, dann zieht er sich zurück, obwohl man die Veränderungen nicht aufhalten kann: die Digitalisierung nicht, die Überalterung nicht, den Klimawandel nicht, wenn wir nichts tun. Wenn man nichts tut, wird man überrollt. Das ist teuer und gefährlich.

In der Schweiz merkt man halt, dass man ein kleiner Player ist. Da entsteht die Idee gar nicht erst, dass man es der ganzen Welt zeigen könnte, wie man die Energiewende schafft.

Man kann das so sehen. Aber langfristig zahlt sich das nicht aus. Die Schweiz ist eines der innovativsten Länder der Welt. Aber wenn wir Scheuklappen anziehen, gehören wir irgendwann nicht mehr dazu, auch nicht bezüglich Wertschöpfung. Jetzt schon müssen chinesische E-Fahrzeuge extrem besteuert werden, damit sie nicht Europa überrollen. Es geht hier also nicht ums Weltretten, sondern um knallharte Weltpolitik.

Der Klimawandel ist ein globales Problem, da könnte man ja auch global zusammenarbeiten – gerade bei E-Autos.

Wir tun uns schon in der Europafrage schwer. Tatsache ist: Am Ende des Tages denkt jedes Land für sich selbst. Die Pandemie hat das gezeigt. Das Klimaproblem ist zwar ein globales – aber lösen werden wir es nicht global. Jeder Versuch, ein globales Abkommen mit verbindlichen Reduktionen festzulegen, ist spektakulär gescheitert.

Was heisst das in der Konsequenz?

Die Klimapolitik ist nationale Politik. Jedes Land muss das Problem auf seine Art lösen.

Dann werden aber auch nicht alle das Problem angehen.

Jein. Derzeit ist es noch so. Früher ging es tatsächlich darum, wer die Lasten am stärksten tragen soll. Also hat jedes Land mal abgewartet, weil es billiger war. Aber viele Länder merken, dass es nützt, zu handeln. Nicht nur wegen der Umwelt, auch bezüglich Technologie und Geopolitik. Wenn die Lösungen gut genug werden, macht man es, egal, ob die anderen es auch tun. Und wenn die Gruppe jener, die etwas tun, genügend gross ist, kann man andere unter Druck setzen. Das sind die sogenannten Carbon-Border-Adjustment-Mechanismen: Wer kein ambitioniertes Klimaziel hat, muss beim Import seiner Güter drauflegen. Das geschieht auch auf der Ebene der Firmen: Diese beginnen ihre Zulieferer zu fragen, wie nachhaltig sie produzieren, und wählen sonst einen anderen. Ricola hat das schon öffentlich gesagt, dass sie von Schweizer Grossverteilern so unter Druck gesetzt werden.

Mit welcher Motivation tun die Grossverteiler das?

Sie selbst müssen ihren ökologischen Fussabdruck verkleinern. Sie sehen: Die Transformation ist unvermeidbar, also handeln sie. Gegentendenzen gibt es aber auch. Gerade hat die Migros verlauten lassen, dass sie doch weniger in Nachhaltigkeit investieren will. Aber der Druck steigt, seitens der Handelspartner, Aktionäre, Konsumenten und imwar for talents.

Was meinen Sie mit Krieg um Talente?

Es ist schon heute extrem schwierig, gute Leute zu finden. Wenn man zudem keine klare Haltung hat gegenüber der Nachhaltigkeit, kommen die guten Leute nicht. Das hat der Chairman von Holcim sogar öffentlich gesagt. Die Bewerber fragen nach der Klimastrategie. Qualifizierte Leute, die begehrt sind, wollen hinter ihrer Arbeit stehen können und den Sinn sehen. Das kann zur Überlebensfrage für eine Firma werden. Langfristig zahlt sich die Vogel-Strauss-Politik einer Firma nicht aus.

Langfristig bedeutet hier wohl aber wieder dreissig Jahre, ein langer Zeithorizont!

Manchmal geht es auch schnell. Vielleicht liege ich auch falsch, aber ich sage dem «Kodak-Effekt». Kodak hat keinen Fehler gemacht, sie waren dran, an der Digitalkameraentwicklung, aber sie glaubten zu lange an Fotofilme – und irgendwann wollte die niemand mehr. Manchmal sind alte Technologien plötzlich weg.

Es ist aber wesentlich, ob es die Ersatztechnologie schon gibt.

Ob es bald genug Solar-Fuel gibt, ist nur eine Frage der Finanzierung und der Infrastruktur. Im Nahen Osten kostet der Solarstrom 1.50 Rappen pro Kilowattstunde – ohne Subventionen. Das ist nichts! Und Wüstengebiete gibt es nach Belieben. Derzeit sind alternative Treibstoffe fünfmal teurer, aber sie können bis auf den Faktor 2 an die fossilen herankommen. Wenn nun also das Kerosin 30 Prozent des Ticketpreises ausmacht, würde das Flugbillett somit 20, 30 Prozent mehr kosten – das ist nicht viel! Dann sagt auch Saudi-Arabien irgendwann: Ihr könnt auswählen, ob ihr fossile oder alternative Energien von uns wollt.

Der Kaffee ist längst ausgetrunken, ein junger Spatz hat sich auf den Rucksack von Reto Knutti gesetzt. Zu guter Letzt kommen wir auf die CO2-Abscheidungstechnologie zu sprechen um Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu filtern. Knutti ist auch da optimistisch: Gesteine im Untergrund zum Abspeichern gebe es in Island und im Oman genug, und Löcher bohren könnten wir auch. Der Haken bleibt also: Solange CO2keinen Preis hat, funktioniert die Finanzierung nicht. Knutti sagt: «Bezahlen werden wir für den weiteren Anstieg der Emissionen dann einfach via Krankenkasse, steigende Nahrungsmittelpreise und Gebäudeversicherung.»

Wenn wir scheiterten, scheiterten wir am Menschen, der nicht bereit sei, langfristig zu denken, und weil wir uns in Partikularinteressen verlören. «Früher waren grosse Würfe wie die Gotthardbahn oder die Wasserkraft mit gigantischen Staumauern möglich oder die Elektrifizierung der Bahn! Wir haben verlernt, in diesen Zeiträumen zu denken und uns für grosse Projekte zusammenzuraufen.»