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Sayragul Sauytbay floh aus dem Lager in Xinjiang – heute warnt sie: «Die Welt muss das wahre Gesicht Chinas erkennen»

Willkürliche Inhaftierung, brutale Folter und permanente Überwachung: Sayragul Sauytbay hat in der Provinz Xinjiang am eigenen Leib erfahren, mit welcher Brutalität China die muslimischen Völker im Nordwesten des Landes unterdrückt.

Es dunkelt bereits, als Sayragul Sauytbay mit wachem Blick, einem zögerlichen Schmunzeln auf den Lippen und eingepackt in einen dicken Mantel in Zürich zum Interview erscheint. Im tibetisch-asiatischen Kulturzentrum wird Sauytbay an diesem Abend von ihrer Vergangenheit erzählen. Mit dabei ist auch Autorin Alexandra Cavelius. Sie hat die Geschichte von Sauytbay im Buch «Die Kronzeugin» aufgeschrieben.

Sauytbay ist Kasachin, sie lebte bis zu ihrer Flucht im April 2018 in der chinesischen Provinz Xinjiang, der ehemaligen «Republik Ostturkestan», wo Uiguren, Kasachinnen und andere Turkvölker beheimatet sind.

Die heute 45-Jährige arbeitete in China als Vorschuldirektorin. Im November 2017 wurde sie unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung verhaftet und in ein Internierungslager gebracht – die chinesische kommunistische Partei spricht von «Berufsbildungszentren». Nach über vier Monaten Haft gelang ihr, wovon Millionen andere Menschen in Xinjiang kaum zu träumen wagen: Sauytbay floh nach Kasachstan, wohin ihr Mann und ihre beiden Kinder bereits zwei Jahre zuvor ausgewandert waren. Mittlerweile lebt die Familie in Schweden, wo sie Asyl erhalten haben.

Frau Sauytbay, fühlen Sie sich in Schweden sicher?

Keine Person, die aus Ostturkestan geflohen ist, fühlt sich sicher. Die chinesische Regierung überwacht uns auch hier, sie weiss, was wir machen. Ich erhalte immer wieder Morddrohungen von chinesischen Anrufern, die mich zum Schweigen bringen wollen.

Dennoch haben Sie sich getraut, Ihre Geschichte öffentlich zu machen.

Als Zeugin habe ich die Pflicht, die Welt auf die Missstände in China aufmerksam zu machen. Ich spüre, dass die Bedrohungen gegen mich dadurch zunehmen. Doch muss die Welt das wahre Gesicht von China erkennen, bevor es zu spät ist. Ich kämpfe für Gerechtigkeit. Es geht nicht nur um Ostturkestan, letztlich steht die Weltsicherheit auf dem Spiel. Denn China hat einen Plan, der weit über seine Landesgrenzen hinausgeht. Die Regierung beabsichtigt, mit ihrer Belt-and-Road-Initiative – also mit der Neuen Seidenstrasse – die Macht in den nächsten Jahrzehnten weiter auszudehnen. Das muss dem Westen endlich klar werden.

Die chinesischen Behörden vergelten solche öffentlichen Berichte oft mit dem Freiheitsentzug von Familienangehörigen. Das hinderte Sie nicht?

Als ich nach Kasachstan floh, wurden meine Schwester und meine Mutter in China verhaftet – und das, obwohl sie keine Ahnung davon hatten, dass ich bereits in Kasachstan war. Wir konnten nicht miteinander kommunizieren. Das alles geschah, bevor ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit ging. Es spielte damals also keine Rolle. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter und meine Schwester wieder freigekommen sind. Ich weiss aber nicht, wie es ihnen heute geht. Wenn ich mit ihnen Kontakt aufnehmen würde, dann birgt das die Gefahr, dass sie in ein Lager verschleppt werden.

Was bedeutet Ihnen das Entkommen aus China?

Über vierzig Jahre lang habe ich in China, meiner Heimat, gelebt. So lange habe ich nicht gewusst, was Demokratie, Freiheit oder Menschenwürde bedeuten. Ich hatte keine Ahnung davon. Erst seit meiner Ankunft in Europa spüre ich, was es heisst, in einem freien, demokratischen Land zu leben. In China machen alle das, was die chinesische Regierung vorschreibt. Die Menschen sind gehorsam und hinterfragen nichts. Auch ich war eine Marionette der chinesischen Regierung.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Peking unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung nach und nach strengere Vorschriften für die Einwohner der Provinz Xinjiang erlassen. Die Regierung will das geostrategisch wichtige Gebiet im Nordwesten des Landes unter seine Kontrolle bringen. Schritt für Schritt sollen die muslimischen Ethnien die Kultur der Han-Chinesen übernehmen und den muslimischen Glauben ablegen. So ist es ihnen etwa verboten, in ihrer Muttersprache zu sprechen, religiöse Bücher zu besitzen oder traditionelle Feste zu veranstalten.

Parallel zu den Vorschriften baute die chinesische Regierung ihren Überwachungsapparat aus. Sie errichtete unzählige Polizeiposten, installierte Kameras und kontrolliert damit die Bewegungen jeder einzelnen Person. Die Einheimischen – auch Sauytbay – wurden im Rahmen sogenannter «Gesundheitskontrollen» von Kopf bis Fuss gescannt, selbst Blut- und Stimmproben mussten sie abgeben. Im November 2016 verbot die chinesische Regierung schliesslich auch allen muslimischen Minderheiten in Xinjiang, mit Bekannten im Ausland via Telefon oder Internet in Kontakt zu treten.

Sie beschreiben die Zeit nach 2016 in Ihrem Buch als «dauerhaften Zustand seelischer Folter». Wie ist das zu verstehen?

Die chinesische Regierung hat eine Atmosphäre geschaffen, in der wir das Vertrauen gegenüber allen Mitmenschen völlig verloren haben. Überall sind Spione, alle Aktivitäten werden verfolgt. Selbst innerhalb der Familien wuchs das Misstrauen, man glaubt niemandem mehr. Die Chinesen wollen, dass wir unsere Mitmenschen verraten und sie ausspionieren.

Hinzu kommt die Polizeipräsenz. Ständig heulen die Sirenen. Man weiss nie, ob man in dieser Nacht abgeholt wird, verhört wird, eingesperrt wird. Ich habe in dieser Zeit nie mein Pyjama angezogen, sondern bin in normaler Kleidung ins Bett gegangen. An der Tür habe ich eine Tasche angebracht mit meinen wichtigsten Sachen drin. Immer habe ich mich gefragt: Wann kommen sie zu mir?

Bei Ihnen klopfte die Polizei im Januar 2017 zum ersten Mal an die Tür.

Ja. Drei schwerbewaffnete Männer stülpten mir einen schwarzen Sack über den Kopf und drängten mich in ein Auto. Als sie mir den Sack wieder vom Kopf zogen, befand ich mich in einem Verhörraum – mir gegenüber sassen zwei Polizisten. Sie wollten alles wissen über meinen Mann und meine Kinder in Kasachstan. Sie haben mich dann angewiesen, meine Familie wieder zurückzuholen nach China. Das Ganze hat sich etwa sieben Mal wiederholt. Ende November endete die Autofahrt mit dem Sack über dem Kopf nicht im Verhörraum, sondern in einem der Lager. Diese Verhaftung war für mich einer der schlimmsten Momente meines Lebens.

Weshalb?

Sie haben mir alles weggenommen, mich geschlagen und verhört. Ich war nur eine gewöhnliche Beamtin, wurde aber so behandelt, als wäre ich eine Verbrecherin. Schon da haben sie mir gesagt, dass ich alles, was ich noch erleben werde, niemandem erzählen dürfe. Was ich danach im Lager gesehen habe, war grauenvoll. Das kann ich niemals vergessen. Vor meinen Augen wurden junge Mädchen von mehreren Männern vergewaltigt und Menschen zu Tode gefoltert.

Sie haben in diesem Lager Gewalt in ihrer brutalsten Form erlebt. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Seit ich geflohen bin, leide ich an einer hartnäckigen Schlafstörung. Mittlerweile kann ich dank der Therapie in Schweden zwei, drei Stunden am Stück schlafen. Aber ich habe immer noch Albträume. Darin strecken die Leute, die mit mir im Lager waren, ihre Hände nach mir aus und bitten mich, sie rauszuziehen. Aber ich kann es nicht, meine Hand reicht nicht bis zu den Händen der Gefangenen. Wenn ich nach den Albträumen aufwache, habe ich das Gefühl, ich sei immer noch unter diesen Menschen im Lager.

Woher nahmen Sie in all dieser Zeit die Hoffnung, es irgendwann wieder aus dem Lager hinauszuschaffen?

Ich glaube an Allah. Mein Opa sagte immer, wenn man ehrlich sei und keine Fehler mache, dann müsse man nichts fürchten. Am Ende werde man gewinnen. Daran glaube ich noch heute. Unser Volk ist unschuldig eingesperrt in diesen Lagern, irgendwann wird China dafür büssen müssen.

Wie wirkt sich Ihre Vergangenheit auf die Fähigkeit aus, Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen?

Jede seelische Folter hinterlässt Spuren. Das ist auch bei mir so. Wenn sich mir eine Person grundlos nähert, dann frage ich mich immer, was diese Person im Schild führt. Was will sie von mir?

Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat kürzlich einen Bericht zu Chinas Umgang mit den muslimischen Minderheiten im Land veröffentlicht. Darin hält Bachelet fest, dass in Xinjiang hunderttausende Menschen allein aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit verfolgt, willkürlich inhaftiert und gefoltert worden seien. Die dokumentierten Gräueltaten stellen «möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit» dar. Trotz dieser schwerwiegenden Anklage hat der Menschenrechtsrat in Genf eine Debatte über den Bericht abgelehnt. Eine Mehrheit der Länder im Rat steht auf der Seite Chinas.

In China herrscht Willkür, doch nicht einmal der Menschenrechtsrat will darüber diskutieren. Ein Affront?

Die Chinesen haben Vorarbeit geleistet, damit es zu diesem Entschluss im Menschenrechtsrat kam. Sie kaufen die Stimmen der Länder ein, das ist bekannt. Was mich sehr enttäuscht, sind die westlichen Länder, die ihre wirtschaftlichen Interessen über die Menschenrechte stellen. Sie kritisieren zwar die Verletzungen in Xinjiang, aber sie scheuen sich davor, die Handelsbeziehungen mit China einzuschränken oder ganz aufzugeben.

Sie haben lediglich den heutigen Gewinn vor Augen und setzen damit die Zukunft der Welt aufs Spiel. Denn irgendwann ist es zu spät, um China Einhalt zu gebieten. Ich kenne die chinesische kommunistische Partei sehr gut und weiss, wie brutal und kaltblütig sie agiert. Die chinesische Regierung hat kein Schamgefühl und setzt alle Mittel ein, um ihre Interessen zu verfolgen. Dagegen kommt man mit rein mündlicher Kritik nicht an.

Was erwarten Sie von der internationalen Staatengemeinschaft?

Wenn die westlichen Länder nicht endlich aufwachen, geht die Tragödie in Ostturkestan weiter und sie dehnt sich in andere Länder aus. Ich hoffe fest, dass die westlichen Staaten ihr Schweigen brechen und endlich entschlossen gegen die Verbrechen der chinesischen Regierung vorgehen. Nach dem Genozid während dem Zweiten Weltkrieg hat man in Europa gesagt: «Nie wieder.» Jetzt spielt sich sehr Ähnliches in China ab.