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Kulturklau in der Kunst – wie Europa als Zecke am Blut der islamischen Kunst leckte  

Kultureller Austausch ist so alt wie die Menschheit. Wie zentral das Wissen und die Techniken der islamischen Kunst für Europa sind, zeigt eine bahnbrechende Ausstellung im Kunsthaus Zürich.

Was ist eine Kultur, was ein Stil? Das ist keine Stilfrage. Sondern existenziell für das Verständnis unserer eigenen, westlichen Sitten und Gebräuche. Kulturen nämlich sind keine abgeschlossenen Einheiten, sondern verstehen sich als beständig wandelnde Gebilde und Vorstellungen mit durchlässigen Grenzen.

Anschaulicher als mit einer aktuellen Ausstellung lässt sich das Phänomen des Kulturtransfers – oder, als Kampfbegriff «kulturellen Aneignung» – kaum sichtbar machen: «Re-Orientations» heisst das hochpolitische, hochaktuelle Lehrstück, und allein der Titel ist sprechend. Er verbindet das Wort «Orientierung» mit dem postkolonialistischen Begriff «Orient». Wer sich orientieren will, sei es Migrationsströme verstehen, sei es politische Verwerfungen – oder gar Islamophobie -, muss sich gegen Osten wenden. Hin zum Islam und seiner Kunst.

Westliche Kunst ist ein Schwamm

Kurz und knapp besagt die Ausstellung «Re-Orientations. Europa und die islamischen Künste», der Fokus liegt auf der Zeit von 1851 bis heute: Der Islam ist längst hier! Er ist genauso Teil dessen, was man «westliche Kunst» nennt, wie diese untrennbar verwoben ist mit den Kulturen, die islamisch geprägt sind. In atmosphärischen Nischen, in den Hallen, an den Wänden des grossen Ausstellungssaales ist das anhand Videos, Fotografien, Gemälden, Zeichnungen, Installationen mit Händen zu greifen. Mehrere Jahre hat die Kuratorin Sandra Gianfreda mit einem wissenschaftlichen Beirat Wissen gebündelt, Exponate aus europäischen Sammlungen zusammengetragen – und ein Ereignis geschaffen.

An Positionen und Persönlichkeiten lässt es sich festmachen: Klee, Kandinsky, Le Corbusier, Franz Marc und weitere – die Malerin und Fotografin Gabriele Münter – stehen im Kunsthaus beispielhaft für viele. Der sogenannte Orient war seit der Jahrhundertwende für die stilbildenden Kunstschaffenden Inspiration. An der ersten Weltausstellung 1851 in London, später in Wien, Paris, Algier – 1910 schliesslich in München – lösten «Meisterwerke der muhammedanischen Kunst» ein wahres «Orient»-Fieber aus. Zum ersten Mal überhaupt stellte man islamische Teppiche, Miniaturen, Keramiken auf dieselbe Stufe wie ein europäisches Renaissancebild. Und richtig erkannte man: Die Kunstgeschichte des Ostens besitzt eine enorme Tradition, die des Westens steckt demgegenüber in den Kinderschuhen.

«Die Erleuchtung» kam für Matisse aus dem Orient

Klee, Kandinsky, Le Corbusier, Franz Marc und weitere – Gabriele Münter als eine der wenigen Frauen – reagierten. Sie reisten in die Kolonien beziehungsweise Protektorate Marokko, Algerien und Tunesien und eigneten sich das Neue an. Stilistisch wie inhaltlich und formal. Die Begegnung führte einerseits zur Bildung eines Kanons, der Verabredung darüber, was islamische Kunst überhaupt sei. Andererseits gab der Transfer europäischen Kunstschaffenden einen enormen kreativen Auftrieb. Matisse machte daraus keinen Hehl, als er 1947 deklarierte: «Die Erleuchtung kam für mich aus dem Orient.»