Israel auf der Anklagebank: Darum geht es konkret beim Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof
Israel muss sich erstmals vor dem Internationalen Gerichtshof einer Klage wegen des Vorwurfs des Völkermords stellen – während es gleichzeitig den Einsatz seiner Armee in der Stadt Chan Junis im Gaza-Streifen ausweitet. Am Donnerstag begann vor dem höchsten UN-Gericht in Den Haag eine Anhörung zu der Klage, in der Südafrika Israel im Gaza-Krieg «systematisch Taten von Völkermord» gegen die Palästinenser vorwirft.
In einem Eilverfahren fordert Südafrika einen sofortigen Rechtsschutz für die Palästinenser. Demnach sollen die Richter das Ende der militärischen Handlungen anordnen. In dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wird Israel am Freitag seine Position darlegen.
Israel weist alle Vorwürfe zurück und spricht von Heuchelei
Kurz vor Beginn der Anhörung wies Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erneut alle Vorwürfe zurück: «Israel kämpft gegen Hamas-Terroristen, nicht gegen die palästinensische Bevölkerung, und wir tun dies in voller Übereinstimmung mit dem internationalen Recht.»
Israels Aussenministerium sieht in dem von Südafrika gegen das Land angestrengte Völkermord-Verfahren das «grösste Schauspiel der Heuchelei in der Geschichte». Ministeriumssprecher Lior Haiat schrieb am Donnerstag auf X, vormals Twitter: «Südafrika (…) hat die Realität in Gaza im Gefolge des Massakers am 7. Oktober krass entstellt.»
Es ignoriere die Tatsache, dass Hamas-Terroristen auf israelischem Boden Israelis ermordet, massakriert, vergewaltigt und entführt haben, «allein weil sie Israelis waren». Dies stelle den den Versuch eines Genozids dar.
Der UN-Gerichtshof soll über Konflikte zwischen Staaten entscheiden. Eine Entscheidung, zunächst nur über den Eilantrag zur Einstellung des Militäreinsatzes, wird in den nächsten Wochen erwartet. Ein Verfahren in der Hauptsache, dem Völkermord-Vorwurf, kann Jahre dauern.
Doch worum geht es im Verfahren konkret? Nachfolgend die Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Welches Argument liefert Südafrika?
In der 84 Seiten langen Klageschrift wirft Südafrika Israel vor, dessen Taten im Gaza-Streifen hätten «völkermörderischen Charakter, weil sie darauf abzielen, die Vernichtung eines erheblichen Teils» der Palästinenser in dem Gebiet auszulösen.
Südafrika will erreichen, dass der Internationale Gerichtshof mehrere rechtlich bindende Entscheidungen trifft. Es bemüht sich unter anderem um ein Urteil, dass Israel gegen die Konvention zu Völkermord verstosse. Zudem solle angeordnet werden, dass Israel Feindseligkeiten im Gaza-Streifen einstellt, mit denen gegen die Konvention verstossen werden könnte. Israel solle auch Reparationen anbieten und zum Wiederaufbau im Gaza-Streifen beitragen müssen.
In der Klage wird Israel vorgeworfen, es habe mit der Tötung von Palästinensern, der Zufügung schwerer psychischer und körperlicher Verletzungen und Versuchen, die Vernichtung der Palästinenser «als Gruppe» zu erreichen, völkermörderische Handlungen begangen. Vertreter Israels hätten auch Völkermordabsichten zum Ausdruck gebracht, heisst es.
Südafrika vertritt den Standpunkt, dass der Internationale Gerichtshof für den Fall zuständig sei, weil Südafrika und Israel die Konvention zu Völkermord unterzeichnet haben.
Viele in Südafrika vergleichen die israelische Politik gegen Palästinenser im Gaza-Streifen und Westjordanland mit dem Apartheid-Regime, unter dem schwarze und weisse Südafrikanerinnen und Südafrikaner voneinander getrennt wurden. Diese Parallele wird unter anderem vom südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa gezogen.
Wie hat Israel reagiert?
Die israelische Regierung wies den Vorwurf des Völkermords rasch zurück. Das Aussenministerium warf Südafrika vor, keine rechtliche Grundlage für die Klage zu haben. Zudem mache sich Südafrika der «verachtungsvollen Ausbeutung» des Gerichts schuldig.
Das Land biete eine «politische und rechtliche» Verteidigung des Terrorangriffs der militant-islamistischen Hamas auf Israel vom 7. Oktober, der den Gaza-Krieg auslöste, kritisierte ein Vertreter des Büros von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, Eylon Levi.
Israel hat sich in der Vergangenheit von internationalen Ermittlungen zum Nahost-Konflikt distanziert. Aus israelischen Regierungs- und Behördenkreisen verlautete, Israel habe aus mehreren Gründen entschieden, sich in diesem Fall vor dem Internationalen Gerichtshof zu verteidigen.
Einer sei, dass sich Israel nach dem von den Nazis verübten Holocaust an den Juden für die ursprüngliche Konvention zu Völkermord eingesetzt habe. Ein weiterer sei der Glauben Israels, dass es eine gute Ausgangslage vor dem Gericht habe.
Was passiert jetzt?
Südafrika hat beantragt, der Internationale Gerichtshof solle schnell eine rechtlich bindende Anordnung verhängen, damit Israel seinen Militäreinsatz sofort stoppen muss. Eine derartige vorübergehende Anordnung würde dann für die Zeit gelten, in der der Fall vor dem Gericht verhandelt wird. In der Regel ist so etwas rechtlich bindend, wird aber nicht immer befolgt.
2022 hatte der Internationale Gerichtshof Russland nach einer Klage der Ukraine wegen Völkermords aufgefordert, seinen Angriff auf die Ukraine sofort auszusetzen. Moskau hielt sich nicht daran.
Auch am Freitag gibt es öffentliche Anhörungen vor dem Gericht. Dabei können Anwälte Südafrikas und Israels Argumente vorbringen. Zuständig für den Fall sind 15 Richterinnen und Richter aus verschiedenen Teilen der Welt. Israel und Südafrika konnten jeweils einen Richter nominieren. Die Richterinnen und Richter werden womöglich erst in mehreren Tage oder Wochen darüber entscheiden, ob sie eine vorläufige Anordnung erteilen.
Israel könnte beanstanden, dass das Gericht in diesem Fall nicht zuständig sei und versuchen, die Klage abweisen zu lassen. Zudem könnten andere Länder, die die Konvention zu Völkermord unterzeichnet haben, selbst etwas bei Gericht einreichen.
Wie läuft die Anhörung ab?
Zunächst hat Südafrika am Donnerstag seine Klage erläutert. Am Freitag hat Israel die Gelegenheit, zu antworten. Bei der Anhörung geht es zunächst um einen Eilantrag Südafrikas. Es hatte das Gericht aufgefordert, das sofortige Ende der militärischen Handlungen anzuordnen und die Rechte der Palästinenser zu schützen.
Das heisst, dass die UN-Richter jetzt noch nicht feststellen müssten, ob tatsächlich Völkermord verübt wurde. Es würde die Möglichkeit ausreichen, dass die Konvention verletzt wurde. Das ist eine niedrige Schwelle für eine Entscheidung. Aber auch dafür gilt, dass es deutliche Hinweise auf eine Absicht Israels geben muss, die Palästinenser auszulöschen.
Dann könnten die Richter Israel theoretisch auferlegen, die Gewalt sofort zu beenden, um weiteren Schaden zu verhindern. Sie könnten auch anordnen, dass Israel mehr humanitäre Hilfe zulassen muss.
Wann ist ein Urteil zu erwarten?
Über den Eilantrag werden die Richter in wenigen Wochen entscheiden. Jeder Spruch ist bindend. Das Gericht hat zwar keine Machtmittel, um die Durchsetzung zu erzwingen. Doch der internationale Druck auf Israel würde sich erhöhen und eine negative Entscheidung könnte dem Ruf des Landes schaden.
Wann wird über die Hauptklage entschieden?
Ein solches Verfahren kann sich über Jahre hinziehen.
Warum klagt ausgerechnet Südafrika?
Jeder Unterzeichnerstaat der Völkermordkonvention kann eine solche Klage einreichen. Südafrika ist ein kräftiger Unterstützer der Rechte der Palästinenser. Das Land vergleicht seine Apartheid-Vergangenheit, also die rassistische Unterdrückung durch eine Regierung der weissen Minderheit, mit dem Umgang Israels mit den Palästinensern.
Internationaler Gerichtshof oder Internationaler Strafgerichtshof?
Den Haag in den Niederlanden nennt sich selbst die internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit. Dort befindet sich nicht nur der Internationale Gerichtshof, sondern auch der Internationale Strafgerichtshof. Beiden Gerichten liegt ein unterschiedliches Mandat zugrunde.
Der Internationale Gerichtshof, eingeweiht 1946, verhandelt Fälle zwischen Nationen. Dabei geht es häufig um Streitigkeiten über Land- oder Meeresgrenzen und Differenzen über die Auslegung internationaler Verträge.
Der Internationale Strafgerichtshof ist deutlich jünger. Er nahm die Arbeit 2002 auf mit dem Ziel, zu verhindern, dass Gräueltaten ungestraft bleiben. Dem Strafgerichtshof geht es darum, Einzelpersonen wegen Völkermords, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt derzeit zum Nahost-Konflikt. In dem Fall geht es um einen früheren Krieg im Gaza-Streifen. Israel sagt, der Internationale Strafgerichtshof sei dabei nicht zuständig, weil die Palästinenser keinem unabhängigen souveränen Staat angehören. Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Karim Khan, liess im Dezember wissen, dass eine Untersuchung zu möglichen Verbrechen durch Hamas-Kämpfer und israelische Soldaten für ihn Priorität habe.