«Ich habe alle Termine abgesagt – ausser diesem hier»: Die israelische Botschafterin besucht das Heimatdorf des FDP-Präsidenten
Manchmal erzielt ein seit langem geplanter Anlass eine ganz andere Wirkung als ursprünglich vorgesehen. Beim Besuch der israelischen Botschafterin Ifat Reshef im Surbtal wären das Medieninteresse und das Polizeiaufgebot mit grosser Wahrscheinlichkeit kleiner gewesen, hätte die Hamas am 7. Oktober nicht brutale terroristische Angriffe gegen Israel verübt und damit die Situation im Nahen Osten zum Eskalieren gebracht.
Israel steckt mitten im Krieg. Und mitten im Krieg besucht die israelische Botschafterin in der Schweiz zwei kleine Dörfer im Aargau. Es ist Dienstagmorgen, 10.30 Uhr: Alle suchen Schutz unter dem Dach der Synagoge in Endingen, so auch der Aargauer Ständerat und FDP-Präsident Thierry Burkart oder Botschafterin Ifat Reshef.
Eigentlich wäre ein Spaziergang geplant gewesen: von der Synagoge zum jüdischen Friedhof und zu den Doppeltürhäusern. Doch der Spaziergang fällt wortwörtlich ins Wasser: Es regnet in Dauerschleife.
In der Synagoge empfängt Jules Bloch die Anwesenden. Er ist Präsident der israelitischen Kultusgemeinde Endingen. Seine Begrüssungsrede ist emotional. Man sieht Bloch an, wie er unter der aktuellen Situation Israels leidet. Seine Stimme zittert, als er sagt: «Ich möchte allen Menschen gedenken, die im Krieg in Israel und Gaza ums Leben gekommen sind.» Er hoffe, dass der Krieg bald zu Ende gehe. Und dass Israel den Krieg gewinne. Ansonsten verliere ganz Europa.
An diesem Dienstag geht es vor allem um die Geschichte der Surbtaler Juden. Doch die aktuelle Situation lässt sich nicht ausblenden: weder bei Bloch noch bei Burkart oder der Botschafterin.
Burkart, der Initiator
Nächster Halt: jüdischer Friedhof. Statt zu Fuss zu gehen, fahren alle mit dem Auto dorthin. Wer keines hat, wird mitgenommen. Die Botschafterin, ihre Entourage sowie alle weiteren Gäste und Medienschaffenden wandern zwischen den Grabsteinen hindurch. Beim zwischen Endingen und Lengnau gelegenen jüdischen Friedhof handelt sich um den ältesten seiner Art in der Schweiz.
Dass Reshef gerade hier durch die Gräber schreitet, ist unter anderem Thierry Burkart zu verdanken. Der FDP-Politiker ist vor zweieinhalb Jahren nach Lengnau gezogen. Als er vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal die israelische Botschafterin traf, erzählte er ihr von seinem neuen Wohnort, von den jüdischen Gemeinschaften, die im Surbtal lebten. Sie müsse unbedingt einmal vorbeikommen, sagte er.
Mit der Organisation des Anlasses hatte Burkart laut eigenen Angaben aber nichts mehr zu tun. Das Treffen sei schon lange vor Kriegsausbruch geplant gewesen, «aber jetzt ist die Einladung auch ein Zeichen der Solidarität mit dem israelischen Volk».
Burkart gehört zu jenen Schweizer Politikern, die schnell Stellung bezogen, als der Konflikt eskalierte. Er sei froh, dass der Bundesrat die Hamas mittlerweile als das benenne, was sie sei: eine Terrororganisation. «Terrorismus ist immer menschenfeindlich», sagt Burkart. Für ihn sei der Entscheid des Bundesrats ein wichtiges Zeichen.
Faszination Doppeltürhäuser
Nach dem Friedhofsbesuch steigen alle wieder ins Auto. Es regnet weiter. Nächstes Ziel: Lengnau. In der 1847 eröffneten Synagoge erwartet Roy Oppenheim die Gesellschaft. Was wäre ein solcher Anlass ohne Oppenheim. Der Publizist und ehemalige Radio- und Fernsehmanager ist ein grosser Kenner des Schweizer Judentums – und ein begnadeter Redner.
Oppenheim erklärt der Botschafterin und den übrigen Zuhörerinnen und Zuhörern, dass Lengnau und Endingen im 17. Jahrhundert zu jenen zwei Dörfern erkoren wurden, in denen Juden leben durften. Sie wurden zum Zentrum des Judentums in der Schweiz.
Gleichzeitig wohnten hier auch viele Christen. Die Koexistenz führte zu heute sonderbar anmutenden Bauten: den Doppeltürhäusern. Weil Juden und Christen damals nicht unter einem Dach leben durften, gab es in Lengnau oft zwei Eingänge zu zwei Wohnungen für ein Haus. So konnten die Einschränkung umgangen werden.
Die Geschichte der Surbtaler Juden sei eine Geschichte mit Sonnen- und Schattenseiten, sagt Thierry Burkart im Anschluss an Oppenheims Referat. «Einerseits durften Juden nur noch in zwei Gemeinden in der Schweiz wohnen, andererseits konnten Juden und Christen hier friedlich nebeneinander leben.» Die Geschichte der Surbtaler Juden fasziniere ihn immer wieder von neuem.
Ein wichtiger Termin
Die israelische Botschafterin Ifat Reshef wird von allen umgarnt. Vor dem koscheren Lunch nimmt sie sich Zeit für ein kurzes Gespräch. Wie war ihr Eindruck? «Für mich ist es immer etwas Spezielles, alte Synagogen zu besuchen, wie es sie hier in Endingen und Lengnau gibt.» Der Besuch des jüdischen Friedhofs sei für sie besonders emotional gewesen. Friedhöfe seien immer auch ein Zeichen, dass an einem Ort eine Gemeinschaft lebe, die Generationen überdauere.
Das Wichtigste, das sie von diesem Ausflug mitnehme, sei das Wissen über die mögliche Koexistenz von Christen und Juden. «Hier haben wir ein Beispiel, wie jüdische Gemeinschaften unter strengen Regeln überleben konnten. Es ist wichtig, dass die Geschichte der Schweizer Juden auch nach Israel gebracht wird.»
Seit dem 7. Oktober sei sie unglaublich ausgelastet, schlafe wenig. «Nach Kriegsausbruch habe ich all meine Termine abgesagt, die nichts mit dem Krieg zu tun haben – ausser diesem hier.» Als Botschafterin Israels seien Lengnau und Endingen für sie zwei der wichtigsten Orte in der Schweiz. «Dieser Ausflug gab mir Kraft und Hoffnung. Ich habe gesehen, was die jüdischen Gemeinschaften in der Schweiz geschafft haben. Sie starteten unter schweren Bedingungen, fanden aber letztlich einen Ort, wo sie in Frieden leben konnten.»
Sie sei das erste Mal im Surbtal, sagt Reshef, aber sicher nicht zum letzten Mal: «Ich werde mit meiner Familie wieder hierherkommen.»