Der Regenbogenfisch wird 30 Jahre alt und resozialisiert neuerdings Schwurbelfische: Ist diese Glitzerflosse etwa gar nicht so harmlos?
Anfang der 1990er-Jahre spülte eine riesige Erfolgswelle einen pastellbunten Fisch mit Glitzerflossen auf den globalen Kinderbuchmarkt. 30 Millionen Mal hat sich «Der Regenbogenfisch» (1992) des Berner Kinderbuchautors Marcus Pfister seither verkauft. In über 50 Sprachen wurde er übersetzt. Der eitle Fisch, der seine Glitzerflossen an einen Fischschwarm verschenkt und lernt, dass Teilen glücklich macht, ist ein Weltbestseller.
Die Zeichen stehen gut, dass der Regenbogenfisch noch Jahre im Fahrwasser seines Erfolgs weiterschwimmen darf. Denn mit der Message, seine Privilegien zu hinterfragen, und dem angesagten «Regenbogen» im Titel, schwimmt er heute noch stärker im Mainstream als in den hedonistischen Neunzigerjahren, als die Girlgroup Spice Girls und der ähnlich erfolgreiche, aber mit einem braveren Image ausgestattete Regenbogenfisch fast zeitgleich vormachten, wie man als Kunstprodukt zur Marke wird: Eltern von Neunzigerjahrekindern erinnern sich mit Grausen an die Merchandising-Produkte, an dieses nie versiegenden Angebot an Puzzles, Buntstiften, Filmen und Fernsehserien.
Anders als bei aktuellen Kinderhelden wie Paw Patrol oder Peppa Wutz, die kommerziell ähnlich erfolgreich sind, entzünden sich an diesem Fisch, der moralisch immer auf der richtigen Seite steht, seltsamerweise bis heute ideologische Grabenkämpfe.
«Ein bunt konformer Kotzstrahl»
Auch mein Verhältnis zum Regenbogenfisch ist ambivalent. Meine Eltern waren Anfang der 1990er-Jahre in die Schweiz gezogen, als ich den Regenbogenfisch entdeckte, den der gelernte Grafiker Marcus Pfister mit einer Glitzerfolie zum Eyecatcher in den damals noch nicht so glitzernden Auslagen der Buchhandlungen machte.
Meine deutsche Mutter, die das Schweizer Wertesystem, seine ungeschriebenen Verhaltensregeln gerade erst zu durchschauen begann, gab mir ihre Interpretation dieser Geschichte mit auf den Weg: Das Schicksal des Regenbogenfischs, am Ende nur einer unter vielen zu sein, sei ein typisch schweizerisches Ärgernis: «Bloss nichts Besonderes sein, bloss nicht auffallen, sonst werden alle neidisch auf dich.»
Meine Mutter blieb mit dieser Lesart nicht allein. Jahrzehnte später wird die österreichische Satirikerin Lisa Eckhart, mit ihren extravaganten Haute-Couture-Outifts der schillerndste Regenbogenfisch des deutschsprachigen Kabaretts, über das «schlimmste Kinderbuch» vom Leder ziehen. Der Regenbogenfisch sei ein Mobbingopfer. «Besonders zu sein», sei heutzutage nur gestattet, «wenn alle gleich besonders sind», spöttelt Eckhart im Programm «Die Vorteile des Lasters». Das Ergebnis: ein «bunt konformer Kotzstrahl».
In den USA hat die Projektion von Weltanschauungen in das Kinderbuch eine noch grössere, politische Dimension. Für die «New York Times» ist der «Regenbogenfisch» das «polarisierendste Kinderbuch, das je geschrieben wurde». Während die Demokraten den solidarischen Kerngedanken feiern, wittern die Republikaner im Buch gefährliches kommunistisches Gedankengut.
Der in Bern lebende Autor Marcus Pfister glaubt, dass die von der McCarthy-Zeit geprägte Einstellung, Kommunismus und Sozialismus seien des Teufels, auf die Rezeption seines Buches Auswirkungen hatte. Er sagt:
«Ich glaube, in den USA herrscht über weite Strecken eine recht unterschiedliche Lebens- und Wertvorstellung als hier in Europa. Keinen Erfolg zu haben, ist genau so verpönt wie Kompromisse einzugehen.»
So verwundert es nicht, dass im renommierten libertären Magazin «Reason» ein Autor wortreich erklärt, warum er den «Regenbogenfisch» aus dem Kinderzimmer entfernt habe. Die Tiraden des konservativen Radiomoderators Neal Boortz führten einst sogar zu einer Gegenpublikation namens «Starboortz Fish». Ein langweiliger Seestern, der glänzen will und am Ende kapiert, dass er seine Wettbewerbsvorteile aktiv nutzen muss, um der Gemeinschaft zu dienen, dürfte für Ayn-Rand-Jünger einen höheren pädagogischen Wert haben als der originale Sozi-Fisch.
Der Schwurbler-Fisch, der den Schwarm verführt
Auch der neuste Band hat politische Sprengkraft. Ein Fisch mit orangefarbenen (!) Flossen versetzt den Schwarm mit erfundenen Horrorstorys in Angst und Schrecken. Mit dem Regenbogenfisch findet der Schwurbler-Fisch schliesslich zurück in die Gemeinschaft. Dort darf er weiter Geschichten erzählen – nur keine, die Angst machen. Pfister hatte der «Zeit» gegenüber zugegeben, dass er die dicken Lippen und buschigen Augenbrauen von Donald Trump aus Rücksicht auf den amerikanischen Markt habe zurücknehmen müssen.
Die aufgezwungene Moral und die seltsamen Tauschhändel (Freundschaft gegen Glitzerflosse, gesellschaftliche Wiedereingliederung gegen Sanktionierung) haben mein Misstrauen gegenüber dem Regenbogenfisch zwar bis heute nicht zum Verschwinden gebracht. Seinen Erfolg hingegen gönne ich ihm! Das hat mir meine Mutter so beigebracht.