Unnötigste Krise: Mario Draghi bleibt im Amt – drei Parteien seiner Koalition wiesen das Angebot zurück
Um 19.30 Uhr hatte Italiens Premier Mario Draghi genug gehört: Er verliess den Senat, um sich in sein Büro im Regierungspalazzo zu begeben. Allgemein wurde davon ausgegangen, dass er an diesem Donnerstag Staatspräsident Sergio Mattarella sein Rücktrittsschreiben übergeben wird – diesmal in unwiderruflicher Form.
Vor der entscheidenden Vertrauensabstimmung im Senat, die über Draghis Verbleiben im Amt des Regierungschefs entscheiden sollte, hatten die Fünf-Sterne-Protestbewegung, die rechtspopulistische Lega sowie die Forza Italia von Ex-Premier Silvio Berlusconi bekannt gegeben, dass sie die Abstimmung boykottieren und damit Draghi das Vertrauen verweigern werden. Am Ende gewann Draghi die Abstimmung dennoch mit 95 zu 38 Stimmen. Aber das spielte wohl bereits keine Rolle mehr: Die Regierung Draghi steht vor ihrem Ende.
Mehrere Stunden zuvor hatte Draghi in seiner mit grosser Spannung erwarteten Erklärung vor dem Senat seine Bereitschaft signalisiert, unter bestimmten Bedingungen die Regierungsgeschäfte weiterzuführen: «Wir brauchen einen neuen Pakt des Vertrauens, betonte Draghi in seiner etwas mehr als halbstündigen Rede im Senat. Dies sei der einzige Weg, zusammenzubleiben und die Regierungsarbeit weiterzuführen.
Zum Schluss seiner Ausführungen fragte er die Parteien, ob sie bereit seien, diesen Pakt «von Grund auf» («da capo») zu erneuern, und ergänzte: «Die Antwort müsst ihr nicht mir geben, sondern den Italienerinnen und Italienern.» Denn sie – und nur sie – seien es gewesen, deretwegen er seinen Rücktrittsentscheid vom vergangenen Donnerstag nochmals überlegt und sich in den Senat begeben habe.
Salvini und Berlusconi schiessen quer
Draghi spielte damit auf die Welle der Sympathie und Unterstützung an, die er in den fünf Tagen seit seinem Rücktritt seitens der Bürgerinnen und Bürgern erfahren hatte. Der Premier erwähnte an erster Stelle die fast 2000 Bürgermeister, die ihn in einem offenen Brief gebeten hatten, im Amt zu bleiben. Sie seien es, die die Probleme und Sorgen ihrer Bürger am besten kennen würden. Weiter nannte Draghi das Gesundheitspersonal, dem das Land wegen seines grossen Einsatzes in der Pandemie zu grossem Dank verpflichtet sei, und das ihn ebenfalls gebeten hatte, zu bleiben.
Die Lega und die Forza Italia hatten zunächst erklärt, dass sie zu einer Erneuerung des Pakts und damit an der Beteiligung an Draghis Regierung der nationalen Einheit bereit seien; gleichzeitig stellten sie jedoch Bedingungen, die eine Einigung praktisch ausschloss: Die beiden Parteien verlangten einen Ausschluss der Fünf-Sterne-Bewegung aus der Regierung – angesichts der notorischen Unzuverlässigkeit der «Grillini» ein nachvollziehbares Anliegen –, aber zugleich forderten sie auch eine Umbildung der Regierung und die Entfernung der bei den Rechtsparteien unbeliebten Justizministerin Luciana Lamorgese sowie des sozialdemokratischen Gesundheitsministers Roberto Speranza. Für die beiden ebenfalls an der Regierung beteiligten Linksparteien PD und LEU waren beide Forderungen völlig unannehmbar, und sie waren es auch für Draghi.
In seiner Erklärung vor dem Senat war Draghi mit den Parteien seiner bisherigen Koalition hart ins Gericht gegangen: Nachdem diese zu Beginn noch Geschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein gezeigt und die Realisierung zahlreicher wichtiger Reformen ermöglicht hätten, seien in den letzten Monaten Parteiinteressen und «ein wachsendes Bedürfnis nach Abgrenzung und Zerstrittenheit» in den Vordergrund gerückt, kritisierte Draghi.
Kein Interesse am Fortbestehen der Regierung
Angesichts der grossen Unterstützung, die der ehemalige EZB-Präsident in der Bevölkerung geniesst, erschien seine Bereitschaft, die Regierungsgeschäfte noch bis zu den regulären Neuwahlen im kommenden März weiterzuführen, eigentlich als ein Angebot, das die Parteien nicht ablehnen konnten. Denn welcher Partei kann in der heutigen Situation – Inflation, Energie-Engpass, drohende Rezession, Ukraine-Krieg, Dürre – schon daran gelegen sein, die Verantwortung für den Sturz des beliebten Regierungschefs übernehmen zu müssen?
Salvini und Berlusconi haben es mit den Neuwahlen aber offenbar derart eilig, dass sie dieses Risiko in Kauf nehmen. Beide Parteien hatten schon in den vergangenen Tagen mit ihrem Verhalten angedeutet, dass sie nicht ernsthaft an einer Weiterführung von Draghis Regierung interessiert sind.
Nach dem politischen Trauerspiel im Senat ist nun wieder Staatspräsident Sergio Mattarella am Zug. Ein zweites Mal kann er den Rücktritt Draghis nicht ablehnen, und so könnte er versuchen, eine Übergangsregierung zu bilden, die das Land noch bis zu den Parlamentswahlen im Frühling führen wird. Oder er könnte – und das ist die wahrscheinlichere Lösung – sofort das Parlament auflösen und Neuwahlen für den Herbst ansetzen. Diese könnten am 2. oder 9. Oktober stattfinden. Das Rechtsbündnis aus Lega, Forza Italia und den postfaschistischen Fratelli d’Italia gilt dabei als klarer Favorit.