Afghane taucht vor dem Prozess unter: Entscheid der Staatsanwaltschaft war «falsch», aber kein Fehlentscheid
Der erste Prozess im September ist geplatzt, weil der beschuldigte 32-jährige Afghane nicht auffindbar war.Die zweite Verhandlung im November fand statt. Die Anklagebank aber blieb auch beim zweiten Mal leer. Vom Mann, der zwei Kinder massiv sexuell missbraucht hat, fehlt trotz internationaler Fahndung jede Spur.
Das Bezirksgericht Brugg sprach den 32-Jährigen im Abwesenheitsverfahren der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind, der mehrfachen sexuellen Nötigung und der mehrfachen Pornografie schuldig. Es verurteilte ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Jahren und ordnete einen Landesverweis von zehn Jahren sowie ein Tätigkeitsverbot mit Kindern von ebenfalls zehn Jahren an.
Regierungsrat lässt Oberstaatsanwaltschaft antworten
Bereits vor dem zweiten Prozess im November wurde der Fall des untergetauchten Afghanen politisch. Désirée Stutz, SVP-Fraktionschefin und ehemalige Staatsanwältin, kritisierte: «Die Staatsanwaltschaft hätte U-Haft beantragen müssen.» Die Argumente der Staatsanwaltschaft gegen die Untersuchungshaft, etwa dass der Afghane nicht einschlägig vorbestraft sei oder sich während des Untersuchungsverfahrens kooperativ verhalten habe, klingen für die SVP-Grossrätin nach «Ausreden».
Sie hat im Grossen Rat drei Interpellationen zum Fall eingereicht. Inzwischen liegen die Antworten vor. Der Regierungsrat hält fest, er beaufsichtige zwar die Strafverfolgungsbehörden, dürfe dabei aber keine Anordnungen oder Weisungen zur Führung einzelner Strafverfahren erlassen. Zu Stutz‘ Fragen nimmt deshalb vorwiegend die Oberstaatsanwaltschaft Stellung.
«Es fand kein zusätzliches Controlling statt»
Aus den Antworten geht hervor, dass die beiden Opfer den Mann, einen Asylsuchenden mit Ausweis N, am 7. November 2018 beziehungsweise am 28. August 2019 angezeigt haben. Als Verfahrensleiter amtete der leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach.
Es obliege der Verfahrensleitung, ob in einem konkreten Strafverfahren ein Haftantrag gestellt werde, heisst es in der Antwort. «Da der leitende Staatsanwalt selber der Verfahrensleiter war, fand kein zusätzliches Controlling statt.» Es sei aber gängige Praxis auf allen Staatsanwaltschaften, dass sich ein Verfahrensleiter in schwierigen Fällen mit anderen Staatsanwältinnen und den polizeilichen Sachbearbeitern bespreche, bevor er entscheide.
Schwere der Tat ist nicht alleine ausschlaggebend
In der Antwort auf die Interpellation werden erneut die Gründe aufgeführt, die gegen U-Haft sprechen. Ausserdem wird darauf hingewiesen, «dass die Untersuchungshaft eine reine Sicherungsmassnahme und keine vorzeitige Strafe darstellt». Zwar spiele die Schwere der Strafe ebenfalls eine Rolle – und je schwerer eine Tat, desto eher erscheint eine Untersuchungshaft als verhältnismässig. Aber sie sei nicht alleine ausschlaggebend.
Désirée Stutz bezeichnet den Entscheid gegen die U-Haft in ihrer Frage als Fehlentscheid. Die Oberstaatsanwaltschaft hingegen führt aus, dass Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ihre Entscheide jeweils auf einer Informationsgrundlage fällten. «Diese kann auch unvollständig oder sogar unrichtig sein.» Der vorliegende Entscheid des Verfahrensleiters, keinen Haftantrag zu stellen, sei basierend auf den Rechtsgrundlagen und der Gerichtspraxis gefällt worden. «Er hat sich im Nachhinein natürlich als falsch herausgestellt.» Aber: «Der Entscheid kann daher nicht als Fehlentscheid bezeichnet werden.»
Im Zweifel wird U-Haft beantragt
Aus Sicht der Oberstaatsanwaltschaft sind keine weitergehende, spezifische Massnahmen erforderlich, um künftig «falsche Entscheide» zu verhindern. Aufgrund der Erfahrungen in Fällen wie diesem werde die Sensibilisierung der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte für die Thematik verstärkt.
Die Oberstaatsanwaltschaft hält auch fest, dass sie bereits die Praxis verfolge, im Zweifel einen Antrag auf U-Haft zu stellen. Im vorliegenden Fall habe zwar ein hinreichender und genügend schwerwiegender Tatverdacht bestanden. Konkrete Fluchtgefahr habe jedoch aufgrund der damals vorliegenden Informationen verneint werden müssen. «Da auch die anderen Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft nicht gegeben waren, wurde durch den Verfahrensleiter kein Antrag auf Untersuchungshaft gestellt.»