Ein Solo für Schwurbler, Mainsplainer und Verschwörungsideologen: Slow Thinking mit Patrick Frey
Der Abend ist ein Schweizer Dichterwettstreit de luxe. Und es gewinnt ihn der einzige Teilnehmer: Patrick Frey! Die Szene hat einen neuen Slam-Poeten, er ist 74 Jahre und performt seine Texte vor Publikum, dass die Luft kocht. Im kleinen Theater Ticino in Wädenswil hat der Schauspieler sein neues Solo uraufgeführt, «Wo bin i gsi?», einen Abend über die Gefahr der Zerstreuung in unserer vernetzten Welt. Wer Und dabei war, weiss: das war dicht dran – an einem kulturhistorischer Moment.
Denn da zeigt einer, was auf den heimischen Bühnen fehlt, jenseits von Jodeln und diesseits des Satirebegriffs von Leutschenbach. Es sind diese Frey’schen linguistischen und gedanklichen Schwurbeleien, die einer auf die Spitze der Zeit treibt. Frey züchtet Wortschöpfungen wie «Gedankenbüsi», vermengt unser Halbwissen mit den Kampfbegriffen der Tierschützer, der Verschwörungsideologen, der Mansplainer und bringt alles mit allem – selbstironisch – in Verbindung.
Zwischen «Blanc de Tristesse » und Unisex-Wickeltisch
Kein Zusammenhang ist zu krude, als dass er nicht behauptet und sogar bewiesen werden kann. Man weiss das aus der Politik. Hätten Sie gewusst, was Corona mit Gendern zu tun hat? Oder der geschlechtsneutrale Wickeltisch mit dem Ausbau des 5-G-Netzes? Frey, ein Meister der Her- und der Überleitungen erklärt es in seinem zweistündigen Parforce-Ritt.
Dabei ist sein Auftritt aus der Zeit gefallen. Ein Lesetischchen, davor ein Althippie, der sich als Begräbnisredner (oder einen düsteren Stephan Eicher) verkleidet zu haben scheint – neben sich, und davon schon mächtig genossen: ein imaginierter «Blanc de Tristesse». Freys Sexyness liegt in der Gedankenarbeit. Er kämpft kompromisslos, weil mit intellektuell unwiderlegbar harten Bandagen.
Nur ein paar Minuten, und wir fressen ihm aus der Hand. «Wo bin i gsi?» beginnt in der Reihe Zero, ein paar Witzchen darüber – und dann wird’s politisch: «Welchen Bundesrat oder welche Bundesrätin möchten Sie als Sterbehelfenden?», das Publikum ist gefragt. Wäre eine Beliebtheitsumfrage an Präzision zu überbieten? Niemand macht Kompromisse, wenn es so weit ist. Frey kennt den Sieger, die Siegerin, behauptet er – und behält dann tatsächlich recht. Nein, als Sterbecoach wünschen sich die Anwesenden nicht den einzigen Arzt im bundesrätlichen Gremium, Ignazio Cassis.
Ein Trash-Philosoph vor Erfindung des Richard David Precht
Dass er schreibt wie ein Messer, dass er denkt wie ein Anarchist, dafür ist Patrick Frey schweizweit seit Jahrzehnten weltbekannt: Im Radio Lora erklärt er in den Neunzigern morgens um ein Uhr den letzten alternativen Zellen den Kulturbegriff von Enzensberger; um zwei Uhr dann referierte er über Transsexualität (ja, da war einer visionär unterwegs), und um drei Uhr erläuterte er seiner Hörerschaft die Vorteile von Gesundheitssandalen. Seitdem weiss man, mit Frey ist zu rechnen. Ein Trash-Philosoph war geboren.
Später dann war er weit mehr als der Sidekick von Viktor Giacobbo, sondern war als Dr. Werner Stolte-Benrath eine eigene Sendung wert; ganz zu schweigen von der Gründung des Kabaretts «Götterspass» mit Beat Schlatter. Freys Vergangenheit muss man in Rechnung stellen, wenn man nun seine jüngste Identität als Slam-Poet, seine Kunst, vernetzt zu schimpfen, bemerkenswert findet. Als Sterbehelfer auf den letzten Metern jedenfalls wünschte man sich ihn, nicht wie alle anderen den jüngeren Weissweintrinker, Alain Berset.