Die SVP inszeniert sich als letzte Hüterin der Neutralität – und fordert die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland
Die Abstimmungsniederlage am Ende war so voraussehbar wie das Amen in der Kirche: Mit 125 zu 56 Stimmen bei acht Enthaltungen lehnte der Nationalrat eine Motion der SVP ab, mit welcher die Partei den Rückzug der Schweizer Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat erzwingen wollte. Der Nationalrat wollte das Vorhaben des Bundesrats, welcher die Kandidatur Anfang 2011 formell lanciert hatte, nicht in letzter Minute abschiessen. Er blieb damit seiner Linie treu: Bereits drei Mal hatte das Parlament Versuche der SVP abgelehnt, die Kandidatur zu begraben – zuletzt im März 2020, mit praktisch gleichem Abstimmungsergebnis.
Die SVP nutzte die Debatte, um sich als letzte Verteidigerin der Neutralität zu inszenieren. «Meine sehr geehrten Damen und Herren, wachen Sie auf!», rief der Zürcher Nationalrat und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel in seinem Eröffnungsvotum seinen Ratskolleginnen und -kollegen zu. Die Kandidatur sei vor vielen Jahren «in sorglosen Zeiten» eingereicht worden. Doch heute herrsche wieder Krieg in Europa, existenzielle Fragen der Sicherheit kehrten zurück. Eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat würde «die Neutralität der Schweiz weiter torpedieren» und «ein unkalkulierbares Risiko» bedeuten.
Köppel fordert Ende der Russland-Sanktionen
Köppel forderte den im Ratssaal anwesenden Bundespräsidenten und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) auf, die Schweiz «zur strikten, immerwährenden Neutralität zurückzuführen». Wenig überraschend vertrat Köppel eine äusserst rigide Lesart der Neutralität: Diese bedeute «die bedingungslose Gleichbehandlung aller Kriegsparteien». Es brauche Mut, sich in kriegerischen Zeiten «Zurückhaltung aufzuerlegen», so Köppel. Diese Zurückhaltung legte Köppel sehr weitgehend aus. «Wir müssen raus aus den Sanktionen, wir müssen raus aus der Parteinahme im Wirtschaftsweltkrieg gegen Russland», forderte er.
Der Bundesrat sei sich bewusst, dass die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat keine leichte Aufgabe sein werde, antwortete Aussenminister Cassis. Doch gerade an «diesem besonders dunklen Tag für unseren Kontinent» bekräftige der Bundesrat erneut seine Unterstützung für eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat:
«Ein Engagement der Schweiz für den Frieden, für die Sicherheit ist heute notwendiger denn je.»
Auch Cassis strich die Bedeutung der Neutralität hervor, kam jedoch zu anderen Schlüssen als Köppel: «Neutral zu sein, bedeutet, die eigenen Werte zu verteidigen.» Die Neutralität sei nicht nur in der Verfassung verankert, sie sei auch ein Schlüsselelement der Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz: «Sie ist Teil unserer DNA, sie ist ein Werkzeug zur Verfolgung unserer Interessen.» Ein neutraler, unabhängiger und verlässlicher Staat zu sein sei für die Schweizer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ein Gewinn, gerade in der aktuellen Phase von internationalen Spannungen.
Weil das Büro des Nationalrats die Motion zum Unmut der SVP lediglich als Debatte der Kategorie IV eingestuft hatte, waren ausser jenen von Köppel und Cassis keine ausführlichen Wortmeldungen zugelassen. Die SVP schickte deshalb insgesamt elf ihrer Vertreter nach vorne, um Cassis mit Fragen einzudecken.
Ein Grabstein auf Twitter
Wie üblich bei dieser Konstellation ging es dabei weniger darum, ein Informationsbedürfnis zu stillen, als noch einmal die längst bekannten eigenen Argumente vorzutragen. Die Fragestellerinnen und Fragesteller beriefen sich auf den Wiener Kongress, die auch vom Bundesrat anerkannten institutionellen Schwächen des Sicherheitsrats oder eine widerlegte, vermeintliche «Exklusivmeldung» der Weltwoche, wonach alt Bundesrat Kaspar Villiger anlässlich der Aufnahme der Schweiz in die UNO im September 2002 eine Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ausgeschlossen hatte.
Kaum hatte Nationalratspräsidentin Irene Kälin (Grüne) die Debatte zeitgerecht per Glocke für beendet erklärt hatte, verbreitete die SVP via Twitter die Behauptung, alle anderen Parteien hätten heute «die immerwährende Schweizer Neutralität beerdigt». Zur Illustration wählte die Partei am Tag, an dem der Krieg in der Ukraine in seine dritte Woche geht und weitere Todesopfer forderte, einen Grabstein.