«Katastrophale Kursstürze»
Am Morgen des 24. Oktober 1929 begann der Handel an der New Yorker Börse wie gewohnt – obwohl es seit Mitte des Monats Anzeichen für eine immer grösser werdende Spekulationsblase gab. Gegen Mittag änderte sich an diesem Donnerstag die Stimmung unter den Händlern schlagartig. In Panik wurde versucht, zu jedem Preis zu verkaufen. Die Folge: Die Kurse stürzten unter den massiven Verkäufen ab, der Handel brach mehrfach zusammen. Zwei Stunden später war der Gesamtwert der börsennotierten Unternehmen um 11 Milliarden US-Dollar gefallen, was ungefähr 1,5 Prozent des damaligen Jahres-Bruttosozialproduktes der USA entspricht. Die Banken reagierten mit massiven Stützungskäufen, was zunächst Erfolg zeigte. Zum Ende des Tages hatte der Dow-Jones-Index gerade mal 2,1 Prozent verloren und lag bei 299 Punkten.
Dieser Text stammt aus der Sonderbeilage «150 Jahre Zofinger Tagblatt» vom 1. Februar 2023, in der jeweils ein Ereignis aus jedem Jahrzehnt seit der ersten Ausgabe des ZT vertieft betrachtet wird.
Das ZT berichtete in der Freitagsausgabe auf der Front von einer «Finanzkrise in Amerika»: «Am Donnerstag herrschte an der Newyorker Börse eine bisher nie gekannte Betriebsamkeit, die sich bis zum Wirrwarr steigerte. Die Käufe und Verkäufe vollzogen sich panikartig. […] 12,88 Millionen Aktien wurden umgesetzt; der bisherige Höchstsatz war 6 Millionen. […] Die Krise droht sich noch zu verschärfen.»
Mit diesem letzten Satz ist vorweggenommen, was noch kommen sollte. Allerdings konnte sich der Autor oder der Leser damals kaum vorstellen, wie schlimm sich die Krise verschärfen würde. Am Dienstag, 29. Oktober, krachte der Markt endgültig zusammen. Das ZT schrieb am folgenden Tag, dass «die Panik in Wallstreet […] grösser geworden [ist] denn je». Die Kurse waren am Dienstag so weit gefallen, dass die Banken begannen, ihr Geld zurückzufordern. Somit zwangen sie die Anleger, ihre als Sicherheit hinterlegten Aktien zu verkaufen – und zwar zu jedem Preis. Der Dow Jones fiel auf 260 Punkte, der Kurswert der Unternehmen nahm um weitere 14 Milliarden Dollar ab.
«Der Börsen-Kater kann günstige Folgen haben»
Am Samstag, 2. November, publizierte das ZT einen Kommentar zum «Börsen-Kater» in den Vereinigten Staaten: «Die Börsen-Katastrophe in Newyork, die kommen musste und mit ihren Folgen niemand erspart werden konnte, wird Rückwirkungen bis nach Europa haben.» Damit liegt der Kommentator zwar richtig, aber mit seiner zu positiven Schluss-folgerung schoss er weit am Ziel vorbei: «Der Börsenkater, welcher heute einem Heer von Amerika-Spekulanten hier und drüben auf dem Magen liegt, kann allerdings günstige Folgen haben, wie jede Art Ernüchterung, die dem Rausch zu folgen pflegt.»
Von «günstigen Folgen» kann nämlich überhaupt nicht die Rede sein. Bis Mitte November fielen die Kurse an der Wallstreet immer weiter, der Dow Jones stand am 15. November bei etwa 180 Punkten. Damit war jedoch der Tiefpunkt noch lange nicht erreicht; das geschah erst im Sommer 1932, als der Dow Jones denselben Wert aufwies, den er bei seiner Lancierung am 26. Mai 1896 hatte: 41 Punkte. Die Folgen waren Millionen Arbeits- und Obdachlose, die sich beispielsweise im Central Park in New York provisorische Hütten aufstellten.
Und die Auswirkungen auf Europa? Sie waren ebenfalls verheerend: Die Aktienmärkte brachen auch hier mehrfach zusammen. Die meisten Länder hatten noch Schulden in den USA aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die nun ihr Geld zurückzogen. Die Weltwirtschaftskrise setzte ein.
Deutschland, noch hoch verschuldet aus dem Ersten Weltkrieg und stark belastet durch den Versailler Friedensvertrag, wurde nach den USA am zweithärtesten getroffen. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 1933 auf über 30 Prozent. Extremistische Parteien kamen zu Wahlerfolgen. Die Weltwirtschaftskrise gilt erst 1933 als überwunden, als Adolf Hitler bereits an der Macht war.