Sex, Lügen und Videotapes: Nan Goldins Kampf gegen das Blutgeld, aus dem die Kunst ist
Zwei Frauen haben es geschafft: Nan Goldin, die intimste und wuchtigste Fotografin des späten 20. Jahrhunderts, und Laura Poitras, die oscar-prämierte Dokumentarfilm-Regisseurin schenken dem Kino einen Film, der dem Publikum den Atem nimmt: «All the Beauty and the Bloodshed» («All die Schönheit und das Blutvergiessen») sind ein Ereignis. Eindringlich wie ein offenes Messer.
Nan Goldin, was kennt man bisher vor ihr? Ihr Leben vielleicht, das die Kunst des Überlebens zur Kunstform gemacht hat: Goldins Fotos aus den Subkulturen der Dragqueens, Schwulen und Lesben in Boston und New York der frühen 1970er- und 80er-Jahre; die Bilder von Drogenabhängigkeit und Gewalt. Die Porträts ihrer an Aids sterbenden Künstlerfreundinnen und -freunde, aus der Zeit, in der ein texanischer Gouverneur seinen Wählern zurief: «Wenn ihr Aids stoppen wollt, dann erschiesst die Schwulen!»
Laura Poitras, die bereits Julian Assange und Eric Snowden zum Subjekt eines Dokumentarfilms machte, bei Snowden sogar oscarprämiert, hat mit Goldin mehrere Jahre eng zusammengearbeitet. Das ist das Geheimnis, das den Erfolg macht. Ihr über zwei Stunden langer Film erweitert das Bekannte um das Entscheidende: Um den Kern von Goldins Werk. Und dieser hat einen Namen, «Barbara».
Ruhiggestellt, weggesperrt: Ihre Schwester machte Goldin zur Rebellin
Barbara war Nans ältere Schwester. Sie rebellierte gegen Erziehung und Eltern, wurde von diesen ins Waisenhaus, dann in die Psychiatrie weggesperrt – und hat sich im Alter von 18 Jahren das Leben genommen. Die Spurensuche nach den Hintergründen des Dramas führen in die Biografie von Nans Mutter. Im Film wird deutlich: Sie war eine zeitlebens schwer depressive, eine in der Kindheit durch ein Familienmitglied jahrelang sexuell misshandelte Frau. Doch weder ihre Krankheit noch diese Tat durften jemals ausgesprochen werden. Sie legte sich Jahre später vor einen Zug. Alte, wackelige Videobilder der jungen Nan zeigen sie, wie sie mit ihrem Mann zuhause ein paar Tanzschritte wagt. Die Szenen der versteinert wirkenden Erwachsenen erzählen von Verdrängung, ungelebtem Leben und Schmerz.
Im Wissen um die biografischen Hintergründe – die Bedeutung von Konformität, Verleugnung, Stigmata – wird das Werk der Künstlerin erst fassbar. Goldin hat bereits in den 1980er-Jahren für die Anerkennung von Aidskranken gekämpft. Sie organisierte in New York die erste Ausstellung mit Werken von schwulen, bisexuellen und lesbischen Kunstschaffenden, John Waters und Peter Hujar waren die Leitfiguren. Die Ausstellung wurde vom Staat zensiert. Wie sehr Goldins persönliche Verluste durch die Aids-Epidemie ihre Widerstandskraft und ihren kreativen Antrieb befeuerten, macht der Film unmissverständlich klar.
Den Kampf gegen die Stigmatisierung von Aids führt Goldin seit 2018 auf einen Feldzug gegen die amerikanischen Kunstmäzene Sackler. Diese, Besitzer eines Pharmakonzerns, verdienten Milliarden mit dem Beruhigungsmittel Valium – und, neueren Datums, mit dem Schmerzmittel Oxycontin. Mit aggressiven Werbekampagnen wurde es in den USA vertrieben und dabei verschleiert, wie schnell es süchtig macht. Nach offiziellen Statistiken sind allein in Nordamerika rund 500 000 Menschen an den Folgen der Droge Oxycontin gestorben. Nan Goldin, auch sie ein Opfer, ihr Arzt hatte es ihr nach einer Operation verordnet, überlebte ihre Abhängigkeit nur knapp. Erst seit 2017, sagt sie, sei sie clean.
Die Methode der Mäzene Sackler, auch in der Schweiz: Aus Blutgeld mach Kunst
Ein Jahr später gründete sie eine Aktivisten-Gruppe und appellierte an Museen, das Geld der Sacklers abzulehnen. Die Mäzene sind mit einer Stiftung auch in der Schweiz aktiv; alle grossen Museen der Welt habe in den letzten Jahrzehnten Millionenbeiträge aus ihrer Hand entgegengenommen, Ankäufe getätigt und teils sogar ganze Museumsflügel finanziert.
Wie nun die öffentlichen Proteste von Goldin und ihrer Gruppe in den Museen geplant und durchgeführt wurden – im New Yorker Guggenheim und anderen – begleitet die Kamera hautnah. Die Künstlerin setzte ihren Ruf aufs Spiel, riskierte, nicht mehr ausgestellt zu werden – und gewinnt schliesslich: 2022 entfernten die letzten Museen den Namen «Sackler» von ihren Wänden und verzichteten von da an auf deren Zuwendungen.
Durch Blutvergiessen Schönheit finanzieren, das ist die Methode Sackler. Das Zitat als Filmtitel «All the Beauty and the Bloodshed» ist ein Satz von Barbara Goldin. Er stammt aus ihrer medizinischen Akte als Antwort auf einen Rorschach-Test. Der heute umstrittene Persönlichkeitstest geht zurück auf den Schweizer Psychiater gleichen Namens. Für Barbara Goldin war der Befund ein Urteil mit Folgen; für das Kino ist er ein Augenöffner.