Zwei Chöre, zwei Orchester und vier Solisten: Soland Chorkunst zeigte in Martigny ein beeindruckendes musikalisches Kaleidoskop
Kunstwerke unterschiedlicher Epochen stimmten am vergangenen Samstag das Publikum im voll besetzten Atrium des Museums Fondation Pierre Gianadda in Martigny bereits ein auf eine musikalische Zeitreise. Das Ensemble Vocal de Martigny und Soland Chorkunst interpretierten gemeinsam mit 7 Sed Unum und Les Symphonistes d’Octodure das Requiem von Mozart. Um die originale Version und deren fragmentarischen Charakter hervorzuheben, wurden im Einklang musikalische Werke von Lotti, Haydn, Ešenvalds, Mendelssohn, Purcell und Pärt einbezogen. Damien Luy als Dirigent hob vor dem Konzert hervor, dass das reine Gefühl und der universelle Charakter der Musik zum Ausdruck gebracht werden sollen. Das musikalische Projekt war bereits 2020 vorgesehen, musste aber pandemiebedingt verschoben werden. Nach zwei vorangegangenen Konzertaufführungen war Martigny nun die dritte Station, bei der zwei Chöre gemeinsam mit zwei Orchestern und den vier Solisten Franziska Heinzen (Sopran), Ruth Soland (Alt), Bertrand Bochud (Tenor) und Alexander Puhrer (Bass) dieses aussergewöhnliche musikalische Kaleidoskop präsentierten.
Aufregende Klangeffekte
Der als Maestro di cappella am Markusdom in Venedig wirkende Komponist Antonio Lotti (1667–1740) schuf mit seinem Werk «Crucifixus» einen zeitlosen musikalischen Ausdruck der Kreuzigung Christi. Bewusst gesetzte Dissonanzen verdeutlichen die knappe Aussage des Textes und werden in neue Dissonanzen weitergeführt. Den Sängerinnen und Sängern gelang es in beeindruckender Weise, überzeugend das Klagende und das Endgültige der Kreuzigung Christi zu vermitteln. Die Dramatik der Kreuzigung Christi griff auch das «Terremoto» von Joseph Haydn (1732–1809) auf. Schon die Satzbezeichnung «Presto con tutta la forza» unterstreicht die Bedeutung des Erdbebens in der Passionsmusik des Barock als Hinweis auf das Jüngste Gericht. Das Orchester liess das Publikum teilhaben an der dynamischen Entwicklung und den naturalistischen Klangeffekten.
Der «Introitus» von Mozarts Requiem begann leise. Die Streicher und Holzbläser intonierten behutsam und klagend. Mit kräftigen Klängen kündigten die Posaunen den Chor an, dessen Stimmen nacheinander einsetzten und den einleitenden Bass imitierten. Die Intensität war unmittelbar spürbar und klang behutsam aus. Das kunstvolle «Kyrie» ist als Doppelfuge konzipiert. Der Chor hob dabei engagiert die Eindringlichkeit des Erbarmens hervor. Der archaisch wirkende Ausklang bahnte gleichsam den Weg hin zur Schreckensvision vom «Dies irae», dem Tag des Zornes. Chor und Orchester unterstrichen mit schnellem Tempo die Atmosphäre aus Angst, Gewalt und Gottesfurcht. Mit dem «Tuba mirum» wurde eine weniger bedrohliche Stimmung erzeugt. Ein Posaunensolo stimmte das Motiv an, das dann vom Bass und von den weiteren Gesangssolisten aufgegriffen und fortgeführt wurde. Mit einem appellhaften «Rex» rief der Chor Gott an und bat im Ausruf «salva me» um Gnade.
Zeitgenössisches aus Lettland
Gleichsam im Warten auf diese erbetene Gnade platzierte das Konzert den zeitgenössischen lettischen Komponisten Ēriks Ešenvalds mit dem zweiten Teil seines Werkes «Passion and Resurrection». Getreu der Intention des Komponisten, sich nicht in musikalisch definierte Kategorien einordnen zu lassen, bezeugt dieses Werk abwechslungsreich verschiedenartige Chorwerke. In «My soul is very sorrowful» gab der Kontrabass gleichsam den Pulsschlag wieder, unterstützt von den die Thematik weiter forcierenden Streichern. Der eindringliche und wiederholte Ruf «Crucify» des Chores versinnbildlichte die aufgebrachte Menschenmenge und kontrastierte mit dem verzweifelt traurigen Passus «Father, forgive them, for they know not what they do.» Diese tiefe Enttäuschung griffen die Solisten bewegend auf im Passus «My friend betrayed me», um es im tragischen Ende eindrücklich ausklingen zu lassen.
Im «Recordare» dialogierten die Streicher mit den 4 Solisten, um so dem Trost und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen. Das folgende «Confutatis» zeichnete eine gegensätzliche Stimmung und liess das Jüngste Gericht wieder in den Vordergrund rücken. Die tiefen Stimmen erhoben sich mahnend und standen in Kontrast zu den hohen Stimmen, die mit «voca me» nur von den ersten Geigen begleitet wurden und den Gesang der Männer für einen Moment ablösten. Das «Lacrimosa» veranschaulichte das im Barock häufig zu findende Seufzermotiv. Die klagende Einleitung der Streicher ging in den sanften Chorklang über. Im «Lacrimosa» endet Mozarts Autograph. Franz Xaver Süssmayr (1766–1803) setzte das Werk fort.
Ein aussergewöhnlicher Abend
Das Offertorium des Requiems gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt «Domine Jesu Christe» lässt an das «Dies irae» erinnern. Der homophone Gesang des Chores strebte mit dem Orchester dem Kontrapunkt bei «ne absorbeat eas» zu. Der zweite Abschnitt «Hostias» bildete einen Kontrast, bei dem die intonierte Harmonie neues Vertrauen vermittelte. Chor und Orchester hoben den fragmentarischen Charakter von Mozarts Requiem mit einem Überraschungseffekt hervor: nach dem achten Takt von «Lacrimosa» herrschte plötzlich Stille und das Licht erlosch. Das Ende von Mozarts Autograph wurde so offensichtlich. In diese Stille hinein erklang das Werk «Fratres» des estischen Komponisten Arvo Pärt. Diese Komposition folgt dem Prinzip des von Pärt entwickelten Tintinnabuli-Stils, bei dem Streicher und Percussion in harmonischen Sequenzen den Klangcharakter von Glocken imitieren. Diese besondere Atmosphäre wirkte noch nach, als das Licht wieder erstrahlte und das «Lacrimosa» aus dem Requiem nun vollständig intoniert wurde.
Das Publikum dankte Chor und Orchester und der Leitung von Damien Luy mit lang anhaltendem und begeistertem Applaus. Auch die Solisten Franziska Heinzen, Ruth Soland, Bertrand Bochud und Alexander Puhrer wurden mit dankbarem Applaus bedacht. Mir selbst erging es am Ende dieses grossartigen Konzerts wie dem gesamten Publikum: Wir verliessen den aussergewöhnlichen Rahmen des Museums im Bewusstsein, ein aussergewöhnliches Konzert dankbar miterlebt zu haben.