«Schweiz erfüllt Anforderungen bereits»: Bundesrat kritisiert den Gerichtshof für Menschenrechte
Der Verurteilte ergreift das Wort: Der Bundesrat hat Stellung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) genommen. Der hatte im April in Strassburg für die Klimaseniorinnen und gegen die Schweiz entschieden. Diese, so das Gericht, unternehme zu wenig, um ältere Frauen vor den Folgen steigender Temperaturen zu schützen.
Die Seniorinnen jubelten (und mit ihnen die Umweltschutzorganisation Greenpeace, die die Klage unterstützt hatte), die bürgerlichen Parteien tobten. Sie warfen dem EGMR vor, ein politisch motiviertes Urteil gefällt zu haben. Unterstützung erhielten sie von mehreren Juristen. Ein Schweizer Bundesrichter kritisierte es unlängstgegenüber dieser Zeitung als «richterlichen Aktivismus». Die Sache gipfelte in Erklärungen beider Parlamentskammern, die Schweiz solle dem Urteil keine Folge leisten.
Das Urteil gehe zu weit
Und nun äussert sich eben der Verurteilte. Der Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf. Er ist der Meinung, dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfülle. Das unter anderem dank dem revidierten CO2-Gesetz und dem Stromgesetz, das vom Volk in diesem Jahr angenommen wurde. Diese Bemühungen der Schweiz seien vom EGMR in seinem Urteil nicht berücksichtigt worden.
Generell würdigt der Bundesrat das Urteil aus Strassburg sehr kritisch. Mit dem Richterspruch habe der Gerichtshof die Europäische Menschenrechtskonvention um den Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels ausgeweitet. Das lehnt der Bundesrat ab. Bundesrat Albert Rösti bekräftigte das an der Medienkonferenz: «Der Bundesrat sieht keinen weiteren Handlungsbedarf.»
Komplett untätig wird die Landesregierung aber nicht bleiben: Sie wird dem Ministerkomitee des Europarats, das die Urteile des EGMR überwacht, Bericht erstatten, wie die Schweiz das Urteil umsetzt. Das ist das übliche Vorgehen, wenn ein Land wegen einer Menschenrechtsverletzung verurteilt wird. Der Ministerrat wird darüber befinden, ob die Schweiz das Urteil im Sinne der EMRK umsetzt.
Der Bundesrat werde, so schreibt er, das Komitee «auf die jüngsten Entwicklungen in der klima- und energiepolitischen Gesetzgebung» hinweisen «und über die Haltung des Bundesrats und des Parlaments informieren».
Greenpeace schlägt zurück
Das reiche nicht, sagt Greenpeace an einer gemeinsamen Pressekonferenz der Klimaseniorinnen, Amnesty International Schweiz, der Plattform Menschenrechte und der Operation Libero. Die Behauptung, die Schweiz setze das Urteil bereits um, sei falsch, sagt die Rechtsanwältin Cordelia Bähr, welche die Klimaseniorinnen vertritt. «Die Schweizer Klimagesetzgebung war und ist ungenügend.» Bis heute schulde der Bund den Klimaseniorinnen den Gegenbeweis.
Der EGMR habe die Schweiz verurteilt, weil sie kein CO2-Budget berechnet hat, um ihre Klimastrategie darauf aufzubauen. Zudem erachtete der EGMR rückblickend das Ziel als ungenügend, Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren – vor allem, weil die Schweiz dieses Ziel schliesslich verfehlte. Weiter beinhalte das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz keine konkreten Reduktionsmassnahmen. Und bis vor kurzem hatte die Schweiz noch keine verbindlichen Klimaziele für 2030 verankert – das Parlament hat diesen Punkt aber zwischenzeitlich behoben.
«Diese Beurteilung ist kein Bauchentscheid des EGMR», sagt Bähr, «sondern stützt sich auf eine umfassende Klärung der Rechts- und Faktenlage.» Und Georg Klingler von Greenpeace fügt an: «Indem der Bundesrat politisch aufgeladene Behauptungen übernimmt, verharmlost er die Folgen der Klimakrise, die wir alle täglich sehen.»
«Das ist eine Missachtung des Gerichts»
Der Bundesrat bekennt sich in seiner Mitteilung zwar formell zum EGMR. «Aber er weigert sich, das Urteil ernstzunehmen und die notwendigen Massnahmen einzuleiten», sagt Alexandra Karle von Amnesty International. «Das ist eine Missachtung des Gerichts und schwächt die Menschenrechte.» Es sei ein gefährliches Signal an die anderen Europarat-Staaten, dass EGMR-Urteile unverbindlich seien und Klimaschutzmassnahmen beliebig getroffen werden könnten. Das bestärke Staaten, welche mit mit einem Bruch der Völkerrechte liebäugeln.
Die Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen Rosmarie Wydler-Wälti ist ebenfalls fassungslos: «Ich finde es unglaublich, dass der Bundesrat so brav dem Parlament folgt und das Urteil nicht umsetzen will.» Das könne sich die Schweiz als Rechtsstaat mit langjähriger humanistischer Tradition nicht leisten. Am Abend nach der bundesrätlichen Antwort protestieren die Klimaseniorinnen in Basel.