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Warum jedes Unternehmen eine Küche braucht

Unternehmer und Dermatologe Felix Bertram erklärt, wie er aus einer Personalkrise herauskam.

Es war im November 2018. Ich war verzweifelt. Wieder hatte eine Mitarbeiterin gekündigt, wieder waren wir in einer Personalkrise, weil uns die Leute wegliefen.

Als ich 2007 eine dermatologische Praxis übernahm, hatte ich keine Idee davon, was es hiess, ein Unternehmen zu führen. Der Übergang vom Arzt zum Unternehmer war ein schleichender, nie einfacher Prozess. Als 30-Jähriger übernahm ich mit viel Enthusiasmus eine kleine Praxis in Aarau. Es folgte ein stetiges Wachstum auf etwa zwölf Mitarbeitende, wir waren eine eingeschworene Truppe, und die Führung gelang mir fast wie von alleine.


2018 wagten wir den grossen Schritt und eröffneten einen weiteren Standort in Lenzburg, mit einer Spitalbewilligung und auf einer Fläche von nahezu 3000 Quadratmetern. Ich hatte keinerlei betriebswirtschaftliche Ausbildung und nur minimale Erfahrung als Führungskraft. Dennoch versuchte ich, mein Unternehmen nach bestem Wissen und Gewissen zu leiten. In meiner Vorstellung sollte es ein Ort der Zusammenarbeit und des Respekts sein. Doch die Realität sah anders aus: Die Fluktuation war hoch, und wir erhielten immer weniger qualifizierte Bewerbungen.

Ich realisierte, dass wir als Unternehmen nur überleben können, wenn wir die richtigen Mitarbeiter haben. Und die richtigen Mitarbeiter stellen gewisse Ansprüche – zu Recht. Eine Unternehmenskultur entsteht nicht einfach so, Wertschätzung ist nicht einfach ein Weihnachtsessen.

Die Wende kam in einer dramatischen, aber auch lehrreichen Weise. Es war kurz vor der Covid-19-Krise, als ich mich in meiner Verzweiflung an einen Bekannten wandte, der sich mit «Menschen auskennt». «Felix», sagte er, «ich möchte einen Tag in deinem Unternehmen verbringen und beobachten, wie es läuft.» Ich war skeptisch, aber willigte ein.

Hinterher kam er zu mir und sagte: «Felix, deine Mitarbeiter haben kein ‹Kissen der Ruhe›.» Ich war irritiert und fragte, was er meinte. «Deine Mitarbeiter arbeiten von 8 bis 17, kümmern sich um Patienten und haben in der Mittagspause nicht wirklich Zeit, miteinander zu sprechen», erklärte er. «In den Pausen schauen sie ins Handy, essen schnell und gehen wieder zurück an die Arbeit. Sie haben keinen Raum, um sich zu entspannen und miteinander zu verbinden.»

Was sollte dieses «Kissen der Ruhe» sein? Warum war es so wichtig, dass Mitarbeiter in der Pause miteinander redeten? Und warum war es so entscheidend, den Alltag zu unterbrechen, um sich zu entspannen? Ich war zu sehr in der operativen Führung des Unternehmens gefangen und konnte den Zusammenhang nicht erkennen.

Doch die Situation wurde immer schlimmer.

Eines Abends war ich bei Freunden eingeladen. Und wie es oft passiert, dauerte es keine fünf Minuten, bis sich alle in der Küche versammelten. Wir kochten gemeinsam, redeten und hatten einen wunderbaren Abend. Dabei wurde mir klar: Es ist der Zauber jedes Hauses, dass Menschen zum Essen zusammenkommen. In vielen Kulturen, selbst in kleinen Dörfern, gibt es Traditionen, bei denen das Essen und das Beisammensein im Mittelpunkt stehen.

Beim Essen entspannen sich Menschen, tauschen Gedanken aus, bauen Beziehungen auf. Es ist ein Ort der Kommunikation und Verbindung, der nicht nur den Körper nährt, sondern auch das soziale Miteinander fördert. Warum nicht auch bei uns im Unternehmen diesen Zauber des gemeinsamen Essens nutzen?

Es war der Beginn einer Veränderung. Wir beschlossen, ein eigenes Restaurant zu eröffnen und die Mittagspause neu zu gestalten: Statt dass jeder allein am Schreibtisch, im kargen Pausenraum oder auf der Treppe vor der Klinik isst, luden wir alle ins klinikeigene Restaurant Skin’s ein. Es gab zwei einfache, aber leckere Gerichte zur Auswahl, für den Grossteil unserer Mitarbeitenden gratis unter der Bedingung, dass sie im Restaurant mit den anderen essen.

Anfangs gab es Widerstand, aber Schritt für Schritt gelang es uns, eine Kultur des gemeinsamen Essens und der Kommunikation zu etablieren. Die Mitarbeiter begannen, sich mehr miteinander zu verbinden. Sie lernten sich besser kennen, tauschten Gedanken aus. Die Atmosphäre im Unternehmen veränderte sich. Und siehe da: Die Fluktuation begann zu sinken. Langsam, aber stetig stabilisierten sich die Teams. Das «Skin’s» wurde zu unserer Küche, in der wir uns versammelten.

Im Jahr 2025 sind wir an einem ganz anderen Punkt. Heute führen wir pro Jahr 20’000 Operationen durch, sehen 700 Patienten standortübergreifend jeden Tag. 150 Mitarbeitende an 4 Standorten schätzen den Spirit und die Dynamik der Firma. Unsere Kultur. Und das gemeinsame Essen. Die Fluktuation ist nicht nur gering, nein, wir können uns vor Bewerbungen kaum retten.

Und heute kann ich eines sagen: Jede Firma braucht eine Küche. Nein, es muss nicht ein Restaurant sein – schon gar nicht ein Zwei-Michelin-Sterne-Restaurant wie das «Skin’s».

Es geht darum, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen sich entspannen und miteinander sprechen können. Ein «Kissen der Ruhe», an dem sich das Team gegenseitig unterstützt und vernetzt. Das kann der gebackene Kuchen sein, den jemand mitbringt oder die bestellte Pizza. Es geht ums Zusammensein.