Die SPD macht einmal etwas richtig: Olaf Scholz bleibt Kanzlerkandidat
Unter den deutschen Sozialdemokraten herrscht Panik. Anders ist das bizarre Schauspiel, das die SPD in den letzten Tagen bot, kaum zu erklären. Tagelang wurde darüber spekuliert, ob die Partei drei Monate vor der nächsten Bundestagswahl anstatt mit dem unpopulären Kanzler Olaf Scholz mit dem beliebten Verteidigungsminister Boris Pistorius an der Spitze in den Wahlkampf starten sollte. Am Donnerstagabend machte Pistorius der Qual ein Ende und erklärte seinen Verzicht.
Dass bis dahin immer wieder Stimmen aus der Partei ertönten, die eine Kanzlerkandidatur des Verteidigungsministers forderten, dürfte der Existenzangst vieler Sozialdemokraten geschuldet sein. Laut Umfragen könnte die SPD gegenüber der letzten Wahl 10 Prozentpunkte einbüssen und von 25 auf 15 Prozent zurückfallen.
Der SPD-Fraktion steht ein Massaker bevor
Hinzu kommt, dass das deutsche Parlament, mit 733 Abgeordneten das grösste demokratische der Welt, durch eine Wahlrechtsreform auf maximal 630 Abgeordnete verkleinert werden wird. Der SPD-Fraktion steht also ein Massaker bevor. Treffen könnte es nicht zuletzt junge Abgeordnete ohne Studienabschluss oder Berufsausbildung, die 2021 in relativ grosser Zahl in den Bundestag einzogen. «Boris, rette uns!», scheinen sich viele von ihnen gesagt zu haben.
Dass nun doch Scholz antritt, dürften viele Sozialdemokraten als Katastrophe empfinden: Während Pistorius Deutschlands beliebtester Politiker ist, ist der Kanzler fast so unpopulär wie Christian Lindner, der Chef der Liberalen, der seit dem Bruch der Ampel-Koalition ausserhalb seines eigenen politischen Milieus regelrecht Abscheu hervorruft.
Trotzdem ist Scholz der bessere Kandidat für die SPD, und dies nicht nur, weil das Absägen eines amtierenden Kanzlers den Ruch der Verzweiflung gehabt hätte. Dass sich Pistorius’ Popularität in Stimmen für die SPD hätte ummünzen lassen, ist nämlich mehr als ungewiss: In den Augen der Wähler steht der Verteidigungsminister für Aufrüstung und eine konsequente Unterstützung der Ukraine. Damit steht er der Union, den Grünen oder der FDP näher als seinen eigenen Genossen. Womöglich ist er vor allem unter Wählern populär, die andere Parteien als die SPD wählen.
Drei Monate können eine lange Zeit sein
Scholz, der sich, was Waffenlieferungen an die Ukraine angeht, stets abwartend verhalten hat, dürfte sehr viel eher die Stimmung in der sozialdemokratischen Zielgruppe treffen. SPD-Wähler sind in der Tendenz ältere, eher vorsichtige Leute.
Man mag das bedauern, doch müssen Politiker diejenigen gewinnen, die sie realistischerweise gewinnen können. Scholz dürfte sich in den kommenden Monaten als «Friedenskanzler» inszenieren – und sich damit von seinem christdemokratischen Herausforderer Friedrich Merzabsetzen, der stets deutlich härtere Töne gegenüber Moskau angeschlagen hat.
Aussichtslos ist das Rennen aus Sicht des Sozialdemokraten nicht. Würde der Kanzler direkt gewählt, käme Merz laut einer neuen Umfrage auf 44 und Scholz auf 39 Prozent. Ein himmelweiter Abstand ist das nicht. Und drei Monate können in der Politik eine lange Zeit sein.