Sie sind hier: Home > International > Experte warnt vor Dauerkonflikt mit Moskau: «Die Ukraine kann Russland aus dem Donbass nicht zurückdrängen»

Experte warnt vor Dauerkonflikt mit Moskau: «Die Ukraine kann Russland aus dem Donbass nicht zurückdrängen»

Europa stehe vor einer dauerhaften Bedrohung durch Russland und die Schweiz solle sich Gedanken über ihre Neutralität machen. Stefan Meister über Putins Krieg und die Möglichkeit eines Sturzes des Kreml-Herrschers.

Russland weist militärische Erfolge im Osten vor, die Stadt Lyssytschanks ist von Russland besetzt, die Ukraine reagiert immer wieder mit Gegenoffensiven. Wo steht dieser Krieg zurzeit?

Stefan Meister: Wir sind in der zweiten Phase des Krieges und werden bald in die dritte eintreten.

Das müssen Sie erläutern.

Die zweite Phase ist ein hochintensiver, konventioneller Krieg, bei dem Russland seine Ziele aus der ersten Phase – die Eroberung der Gesamtukraine inklusive Kiews – angepasst hat. Es geht aktuell um den Donbass und die Cherson-Region. Den Donbass wird Russland erobern, Russland wird die Landbrücke zur Krim-Halbinsel unter Kontrolle behalten. Die Ukraine wird nicht in der Lage sein, Russland auf absehbare Zeit aus dem Osten des Landes zurückzudrängen. Russland ist allerdings auch nicht in der Lage, weitere Teile der Ukraine anzugreifen – weder Odessa noch andere grosse Städte. Weil es dazu überhaupt keine Truppen oder Material mehr hat.

Sie gehen also davon aus, dass Russland schon bald ein wichtiges Kriegsziel – die Eroberung des Donbass – erreicht haben wird?

Ja, in einigen Wochen, vielleicht in einem Monat. Danach dürfte Russland Waffenstillstandsverhandlungen anbieten. Danach wird der Krieg in eine dritte Phase eintreten und das wird einen «Low-Intensity»-Krieg geben, wo wir im Prinzip einen dauerhaften Krieg an einer neuen Kontaktlinie haben werden. Vielleicht wird die Ukraine in dieser dritten Phase des Krieges militärisch so ausgestattet sein, dass es Teile der Cherson-Region wieder zurückerobern kann. Aber eine Rückeroberung des gesamten Donbass halte ich für unrealistisch.

«Ich gehe davon aus, dass es im Donbass zu Referenden kommen wird und die sogenannten Volksrepubliken in die Russische Föderation integriert werden. Wollte man diese Gebiete danach zurückerobern, würde dies einer Kriegserklärung an Russland gleichkommen.»

Dann ist der Donbass dauerhaft verloren und Putin wird für seine Aggression mit einem Teilerfolg belohnt. Düstere Aussichten.

Putins Ziel war es, die Ukraine als Staat und als Gesellschaft zu zerstören und Kiew und die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Dieses Ziel hat er nur zum Teil erreicht. Was Putin aber bewirkt hat: Er hat die Ukraine in einer Weise zerstört, dass sie in Teilen nicht mehr richtig funktioniert und es sehr teuer wird, sie wieder aufzubauen. Gleichzeitig ist es beeindruckend, wie der ukrainische Staat und die Gesellschaft unter Kriegsbedingungen funktioniert.

Nun zeigt sich Putin offen für Gespräche mit dem Westen über Rüstungskontrolle und Beschränkungen für die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Bereitet er Waffenstillstandsverhandlungen den Boden?

Trat diese Woche seine erste Auslandreise seit Kriegsausbruch an und bietet dem Westen Gespräche über Rüstungskontrolle an: Kreml-Herrscher Wladimir Putin am Mittwoch bei einem Treffen in Turkmenistan. 
Grigory Sysoyev/<br/>Keystone

Putin wird auch mit Blick auf die erschöpfte Truppe und das geschwächte Militär die Eroberung des Donbass seiner Bevölkerung als Sieg verkaufen und versuchen – über Pseudo-Angebote an den Westen – die Abschwächung der Sanktionen zu erreichen. Er weiss, dass Angebote über Rüstungskontrolle und Rohstoff- und Getreideexporte den Westen am meisten interessieren. Putin will Konzessionen des Westens erreichen. Aber Russland ist eine revisionistische Macht. Putin wird nach dem Donbass nicht einfach aufgeben. Er möchte die gesamte Ukraine inklusive Kiew zu einem späteren Zeitpunkt erobern.

Wie soll also der Westen, wie soll die Ukraine auf ein solches vergiftetes Angebot eines Abkommens reagieren? Mit Putin kann man doch keine Abkommen schliessen.

Reden muss man trotzdem, auch mit Putin. Wir reden auch mit Nordkorea und dem Iran. Wir dürfen an Gespräche mit Putin einfach nicht die Erwartung haben, dass er Kompromisse eingehen wird. Aber Putin ist geschwächt. Militärisch, mittelfristig auch ökonomisch, Russland wird technologisch in die 1990er-Jahre zurückkatapultiert. Das gibt gewisse Verhandlungsoptionen. Wir sollten aber keine Konzessionen machen, die die Ukraine schwächen und es wird mit Putin keinen dauerhaften Frieden in der Ukraine geben. Darauf sollten wir vorbereitet sein.

Wie sollte der Westen also reagieren?

Die Ukraine muss so ausgestattet werden, dass sie sich verteidigen kann, denn ihre Verteidigungsfähigkeit ist ihre einzige Sicherheitsgarantie. Die Nato wird ihr diese Garantie nicht geben. Die Ukraine muss mit unserer Hilfe so ausgerüstet werden, dass sie die Gebiete, die sie noch kontrolliert, gegenüber Russland verteidigen kann und auch ab einem bestimmten Punkt in die Lage versetzt wird, okkupierte Gebiete zurückzuerobern.

Und wir müssen uns zur Abschreckung selbst besser ausrüsten, so wie es momentan die Nato tut, auch gegen hybride Kriege und Cyberattacken. Wir müssen das Baltikum, Moldau, Georgien besser ausrüsten und schützen. Damit Russland eben nicht in die Lage versetzt wird, nach der Ukraine noch andere Staaten anzugreifen.

«Je weniger wir in unsere Sicherheit investieren, desto teurer wird es in der Zukunft.»

Wenn wir glauben, irgendwelche Kompromisse machen zu müssen, wird sich Putin animiert fühlen, neue Gebiete zu erobern.

Müssen die Sanktionen verschärft werden?

Den Höhepunkt der Sanktionen haben wir erreicht, die Kosten für uns selbst werden zu hoch, wenn wir noch weitergehen. Wir müssen die Sanktionen durchhalten, die wir jetzt haben – und wir müssen uns dauerhaft abkoppeln von der russischen Energie. Schaffen wir das, werden wir Russland auf lange Frist schwächen. Kurzfristig wird sich Putin von den Sanktionen nicht von seinem Ziel abbringen lassen. Er will die Ukraine, dafür ist er bereit, jeden Preis zu zahlen. Langfristig kann sein Regime mit diesen Wirtschaftssanktionen nicht überleben.

In Deutschland stünden Dutzende Marder-Schützenpanzer für den Abtransport in die Ukraine bereit. Kanzler Olaf Scholz zögert. Sollte Deutschland die Marder in die Ukraine schicken?

Natürlich. Russland ist der Ukraine punkto Waffensysteme haushoch überlegen. Die Ukraine braucht Panzer, um sich selbst zu verteidigen.

Sie haben gesagt, die einzige Sicherheitsgarantie der Ukraine sei ihre eigene Verteidigungsfähigkeit. Die G7-Staaten haben der Ukraine aber weitreichende Sicherheitsgarantien versprochen.

Das ist völlig unrealistisch. Niemand will der Ukraine die Sicherheitsgarantie geben, weil keiner sich mit einer Atommacht Russland direkt anlegen möchte. Sicherheit in Europa wird es nur noch innerhalb der Nato und der mit ihr assoziierten Staaten geben. Ausserhalb der Nato wird es – vor allem im östlichen Europa – keine Sicherheit angesichts eines revisionistischen Russlands mehr geben.

Wie fest sitzt Putin noch im Sattel? Steht wirklich 80 Prozent der Bevölkerung hinter dem Kreml-Herrscher, auch die Eliten?

Viele sind für Putin und diesen Krieg, weil sie denken, dass das von ihnen in Russland so erwartet wird. Ich denke, Putin wird von 60 Prozent – vielleicht etwas weniger – der Bevölkerung unterstützt. Sie haben eine Parallelrealität in Russland, ohne freie Medien, ohne Opposition, eine Gesellschaft, die aus einem Imperium kommt und von einem gewaltigen Sicherheitsapparat kontrolliert wird, der sämtliche Demonstrationen im Keim erstickt. Vier Millionen, die anders denken, haben das Land verlassen, andere passen sich an. Ich sehe aus der Bevölkerung heraus auf absehbare Zeit keine realistische Bewegung, die Putin gefährlich werden könnte.

Wenn aber die russische Wirtschaft unter den Sanktionen weiter leidet, könnten die Oligarchen aufbegehren?

Ich sehe auch in der wirtschaftlichen Elite keine Akteure, die sich gegen das Regime erheben könnten. Die Oligarchen sind ökonomisch abhängig vom russischen Staat, sie sind kein Machtfaktor. Und die Sicherheitseliten profitieren von der Situation, weil ihre Institutionen mehr Macht und Ressourcen bekommen.

«Russland wird sich zurückentwickeln und abhängiger werden von Ländern wie China.»

China ist allerdings vorsichtig, Russland mit Technologien auszurüsten, weil Peking nicht unter die Sanktionen fallen möchte. Aber auf mittlere Sicht denke ich schon, dass China zum entscheidenden Partner von Russland werden wird. Beide Länder treibt das Gleiche an, nämlich die von den USA dominierte Welt und ihre Institutionen zu schwächen.

Wir werden global also eine grössere Fragmentierung sehen mit Mächten wie Indien, Indonesien oder Brasilien, die weder zum westlichen noch zum russisch-chinesischen Lager gehören wollen. Das führt künftig zu mehr Ad-hoch-Koalitionen. Für die liberalen Demokratien wird es wichtig sein, sich unabhängiger zu machen. Dadurch wird aber unser Wohlstand in Teilen sicher sinken.

Wie gross ist die Gefahr, dass Europa zum dritten Mal in 100 Jahren Schauplatz eines grossen Krieges um Ideologien werden wird – dieses Mal mit Kräften, die über nukleare Waffen verfügen?

Ich würde diese Gefahr nicht kleinreden wollen, Putin ist bereit, auch das Baltikum anzugreifen, wenn er die Möglichkeit dafür sieht. Es hängt davon ab, wie sehr wir dazu bereit sind, uns selbst und die Ukraine zu stärken, um Russland abzuschrecken. Ich glaube nicht, dass Russland die nukleare Option auf absehbare Zeit ziehen wird. Russland will mit dieser Option Ängste schüren. Wenn Russland wirklich eine Atombombe einsetzen würde – wenn auch nur taktische nukleare Waffen, die lokal Schaden anrichten – wird Russland zum Paria-Staat auch für China und Indien. Dann würde sich Russland vollständig isolieren. Ich will das nicht ausschliessen, sehe diese Option aktuell aber eher nicht.

Im Westen steigt die Inflation, das Gas wird knapp, die Energiekosten steigen. Bröckelt bald der gesellschaftliche Rückhalt für die Ukraine?

Die Benzinpreise sind weiterhin hoch, trotz Tankrabatt auch in Deutschland. Auf dem Bild eine Tankstelle in Berlin im Juni.
Keystone

Putin spekuliert darauf, dass die Kosten für die westlichen Gesellschaften zu hoch sind – sei es beim Benzin, bei Heizungen oder für von Gas abhängige Industriezweige – und der Westen deshalb bereit zu Kompromissen ist. Ich halte dieses Szenario nicht für unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft so resilient ist, ihren Lebensstandard für die Ukraine – natürlich geht es um die globale Sicherheitsordnung und nicht alleine um die Ukraine – anzupassen. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo der politische Druck wachsen wird, Putin die Hand zu Kompromissen zu reichen.

Was glauben Sie, wie lange wird dieser Krieg noch dauern und was werden die Folgen dieses Konfliktes für uns sein?

Wir werden uns auf einen Dauerkonflikt mit Russland einstellen müssen. Es wird zu einem Guerillakrieg in den besetzten ukrainischen Gebieten kommen. Russland wird weiter Krieg in der Ukraine führen. Als Europäer werden wir mehr für unsere Sicherheit ausgeben müssen, die USA werden den Druck auf uns erhöhen.

«Wir werden dauerhaft mit einem aggressiven Russland umgehen müssen.»

In den postsowjetischen Staaten wird es zu mehr Instabilität kommen. Aus europäischer Sicht müssen wir uns fragen, wie wir diese «Grauzonen» durch Angebote stabilisieren können. Die EU muss mit Teilintegrationen von Staaten des Westbalkans, von Moldau oder Georgien geopolitische Interessen durchsetzen. Wenn wir das nicht tun, werden diese Staaten in die russische Einflusszone fallen und die Kosten für uns mit Migration, Kriminalität und Gewalt nur steigen.

Sie sagen, Sicherheit in Europa wird es nur noch innerhalb der Nato geben. Sollte ein Land wie die Schweiz näher an die Nato heranrücken und sich quasi neu erfinden?

Geografisch hat die Schweiz den Vorteil, dass sie sich in einem Raum relativer Sicherheit befindet. Die Schweiz sollte sich allerdings schon Gedanken über ihre Neutralität machen. Sie ist doch Teil dieses Wirtschaftsraumes und der europäischen Wertegemeinschaft.

«Eine reine Neutralität ist mit einer revisionistischen Macht nicht leicht durchzuhalten.»

Die Sowjetunion war eine Status-Quo-Macht, das heutige Russland will Gebiete erobern und den eigenen Einfluss ausdehnen. Die Schweiz muss ja nicht gleich der Nato beitreten. Aber sie sollte sich über die eigene Sicherheit und ihre sicherheitspolitischen Kooperationen nochmals Gedanken machen.

«Die Schweiz sollte sich über ihre eigene Sicherheit nochmals Gedanken machen» – Russland-Experte Stefan Meister.
DGAP