«Langer Prozess» – Kriegslüsterner Putin lächelt Misserfolge weg
In seinem Krieg gegen die Ukraine schwört Kremlchef Wladimir Putin die Russen nun deutlich auf einen womöglich «langen Prozess» ein. Fast täglich muss der 70-Jährige hinnehmen, dass Gegenschläge von ukrainischer Seite mit Drohnen oder anderen Waffen nun die in Russland für das Militär und die Energieversorgung wichtige Infrastruktur treffen.
Die Bilder von Bränden und Rauchwolken, die etwa auch am Donnerstag wieder in Belgorod in Grenznähe zur Ukraine zu sehen waren, gelten als verheerend für das vom Kreml gezeichnete Bild der Unverletzlichkeit Russlands.
Militärexperten betonen, dass Russland nach seinen Angriffen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine offenbar kein Monopol mehr habe auf solche Zerstörungen. Auch die Ukraine schaffe das nun – und binde damit zudem Angriffspotenzial in Russland, heisst es.
Nicht nur in den an die Ukraine grenzenden russischen Regionen Kursk, Brjansk und Belgorod oder auf der von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim gibt es immer wieder Explosionen und Einschläge. Die Angriffe reichen inzwischen Hunderte Kilometer weit in russisches Gebiet.
Nichts in Russland soll mehr sicher sein
Erst am Montag waren zwei russische Militärflugplätze von Drohnen angegriffen worden, einer in der Stadt Engels im südrussischen Gebiet Saratow, einer im zentralrussischen Rjasan nahe Moskau. In Saratow sind strategische Bomber stationiert, die in der Vergangenheit bei den Raketenangriffen auf die Ukraine eingesetzt wurden.
Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, dass für die Schläge Drohnen sowjetischer Produktion vom Typ Tu-141 «Strisch» (Deutsch: Segler) genutzt wurden – mit einer Reichweite von bis zu 600 Kilometern.
Die Ukraine räumt diese Angriffe wie so oft nicht ein, sondern deutet allenfalls durch hämische Kommentare eine Beteiligung an. «Lass es brennen», schrieb etwa der Chef des ukrainischen Präsidentenamtes, Andrij Jermak. Das Signal aus Kiew: Nichts in Russland soll mehr sicher sein.
Der Angriff tief im russischen Hinterland kommt dabei nicht völlig überraschend. Bereits 2020 war der Prototyp einer Kampfdrohne mit dem Namen Sokil-300 (Deutsch: Falke-300) vom Kiewer Entwicklungsbüro Lutsch präsentiert worden. Im Oktober hatte der staatliche Rüstungskonzern Ukroboronprom die baldige Produktion von Kampfdrohnen mit einer Reichweite von 1000 Kilometern und einer Nutzlast von 75 Kilogramm angekündigt.
Auch Hauptstadt Moskau wäre erreichbar
«Ich hoffe sehr, dass wir noch vor dem neuen Jahr den Gegner sehr überraschen können», sagte Ukroboronprom-Manager Oleh Boldyrjew damals im Einheits-Nachrichtenprogramm des ukrainischen Fernsehens. «Wir haben keinen Vorteil bei der Artillerie und wie ich fürchte, werden wir nie einen haben», meinte der Rüstungsexperte. Daher die Konzentration auf bewaffnete Drohnen mit grosser Reichweite. Damit wäre auch das etwa 600 Kilometer entfernte Hauptstadt Moskau erreichbar.
Seit langem schon fordert die Ukraine von den USA und anderen Nato-Staaten Angriffswaffen mit grösserer Reichweite, um russische Truppen zurückzudrängen. Der Westen zögert, auch weil er verhindern will, dass der Krieg durch Attacken gegen Russland weiter eskaliert. Zwar warnt nicht zuletzt Moskau immer wieder vor einer solchen neuen Dimension in dem Krieg. Aber klar ist auch, dass Russland den ukrainischen Angriffen bisher kaum etwas entgegenzusetzen weiss.
Auch kremlkritische Kommentatoren wundern sich schon seit längerem, dass Putin die Attacken nicht zum Anlass nimmt, noch stärker zurückzuschlagen. Vor allem für die Luftüberwachung und Flugabwehr der stolzen Atommacht gelten die Angriffe als Blossstellung.
Freilich hat Putin schon mehrfach Schläge gegen russisches Gebiet beklagt und sie als Vorwand für Raketenangriffe in der Ukraine genutzt. Allerdings hat er bisher immer noch nicht das Millionenheer von der Armee über die Nationalgarde bis hin zu den Kampftruppen des Innenministeriums in Bewegung gesetzt. Vielmehr betonte er gerade noch einmal, dass es keine weitere Mobilmachung von Reservisten geben solle.
Putin vergleicht sich stolz mit Zar Peter dem Grossen
Allerdings setzt Putin auf seinen Vertrauten, den Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, der mit seiner paramilitärischen Truppe «Wagner» Freiwillige und Strafgefangene in der Ukraine kämpfen lässt. Vor dem Tag des Helden des Vaterlands, der am Freitag begangen wird, feierte Putin am Donnerstag mit Sekt im Kreml, dass Russland trotz des «Lärms im Westen» um den Krieg seinen Kampf fortsetze.
Noch am Vortag lächelte der Präsident bei einem Treffen mit Funktionären die vielen Misserfolge der Invasion weg. Russland sei um neue Gebiete gewachsen, meinte er mit Blick auf die annektierten ukrainischen Regionen. «Das ist doch ein bedeutendes Ergebnis für Russland.» Und er zog einmal mehr Parallelen zwischen sich und Zar Peter dem Grossen, der noch um den Zugang zum Asowschen Meer gekämpft habe. Putin meinte nun stolz, dass es unter ihm jetzt zu einem russischen Binnenmeer geworden sei.
Neue Grossoffensive im Frühjahr?
Kremlkritiker kommentierten, dass Putin damit mehr als deutlich gemacht habe, dass es ihm bei seinem Krieg um Landraub und die Wiederherstellung eines Imperiums gehe. Sie veröffentlichten Videoclips in sozialen Netzwerken von Putins Aussagen, der noch zu Kriegsbeginn gesagt hatte, dass Russland keine ukrainischen Gebiete besetzen werde. Eine von vielen Lügen, wie weithin betont wurde.
Doch unter Russlands kremlnahen Militärbloggern und den Ultranationalisten kommen Putins gewaltsame Annexionen gut an. Sie loben nicht nur die jüngsten Personalentscheidungen in der Armee und den Vormarsch in einzelnen Teilen des Donbass, sondern sehen – wie westliche Experten auch – den Winter vor allem als Gelegenheit für Russland, sich neu aufzustellen, Raketen und Munition zu produzieren. Demnach könnte es im Frühjahr zu einer neuen Grossoffensive kommen. (dpa)