Sicherheitsexperte Markus Mohler: «Das Überraschtsein des Bundesrats ist, gelinde gesagt, äusserst beunruhigend»
Herr Mohler, sind Sie Hellseher?
Markus Mohler: Nein! Wie kommen Sie darauf?
In einer Stellungnahme zum Sicherheitsbericht 2021 übten Sie mit Professor Rainer Schweizer massive Kritik. Der Bundesrat sei nicht so aufgestellt, um «sich abzeichnende Bedrohungslagen rechtzeitig zu erkennen». Genau das ist passiert, der Bundesrat wurde vom Russen-Angriff überrascht.
Es war unübersehbar, dass die verschiedenen Institutionen und Abläufe für einen Ernstfall längst nicht mehr passen. Dieses Überraschtsein jetzt ist, zurückhaltend ausgedrückt, äusserst beunruhigend.
Wie meinen Sie das?
Wenn ein Bundesrat wie Ueli Maurer, zumal früherer Verteidigungsminister, am Tag nach der Invasion, dem Aggressionskrieg Russlands, im Fernsehen erklärt, er sei überrascht, habe das am Vortag nicht erwartet, man suche im Moment nach Deutung, nach der Bedeutung dieses Ereignisses, dann stimmt etwas Gravierendes nicht im Zusammenwirken von Nachrichtendienst, Lagebeurteilung und Bundesrat. Man musste nicht Hellseher sein, um genau das, was Putin befohlen hat, als schlimmstmögliche Variante ernsthaft in Betracht zu ziehen. Die Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte müsste untersuchen, wie es dazu kommen konnte.
Was passt hier nicht mehr?
Die ganze Krisenorganisation. Der Sicherheitsausschuss (SiA) des Bundesrats mit der ihm unterstellten Kerngruppe Sicherheit vermag das nicht zu leisten, was in einem dringlichen Ernstfall gefordert ist. Im SiA sitzen die Departementsvorsteher VBS, EJPD und EDA. Es fängt schon damit an, dass der Bundespräsident nicht vertreten ist. Ausser er sei, wie jetzt, Vorsteher eines der drei Departemente. Zudem sind, das hat die Pandemiebekämpfung bewiesen, auch andere Departements und die entsprechenden Sach- und Rechtsbereiche wichtig.
Markus Mohler
Warum muss der Präsident im Ausschuss sitzen?
Gemäss Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz ist der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin mit besonderen Befugnissen ausgestattet, in dringlichen Fällen vorsorgliche Massnahmen anzuordnen. Ist er oder sie nicht Teil des Ausschusses, hat er oder sie schon mit einem Informationsdefizit zu kämpfen, was bei hoher Dringlichkeit gravierende Folgen haben kann. Im Auswertungsbericht über die Strategische Führungsübung 2017 heisst es, es «fehlte – aufgrund der Abwesenheit der Bundespräsidentin, die auf Dienstreise war, und der Nicht-Verfügbarkeit des Vizepräsidenten des Bundesrates (so die Auskunft seines Teams) – die Führung in der Krise». Konsequenzen hat man keine gezogen. Der Bundesrat hat im Gegenteil einen parlamentarischen Vorstoss zur Schaffung eines Stabes mit der Begründung abgelehnt, die Führungsübung 2017 habe gezeigt, dass die aktuelle Organisation funktioniere. Im Bericht werden jedoch Mängel zuhauf aufgezeigt.
Sie kritisierten auch die Zusammensetzung der Kerngruppe Sicherheit, die dem SiA unterstellt ist.
Ihr gehören die Chefs von Nachrichtendienst und Fedpol sowie die Staatssekretärin EDA an. Das genügt nicht. Wie sich jetzt zeigte, braucht es für eine zuverlässige Einschätzung der geopolitischen und -strategischen Lage mehr. Auch für die gleichzeitige Beurteilung, was bei den erkannten Gefahren und weiteren Risiken für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit des Landes und im Land dringlich ist, braucht es mehr. Die Gruppe muss viel breiter aufgestellt sein. Es stehen ja auch wirtschafts- und sozialpolitische Problematiken zur Lösung an.
Wie müsste das Ganze denn organisiert sein?
Es braucht einen zentralen Kern-Krisenstab des Bundesrats, der schnell reagieren, organisatorisch handeln und Anträge für Sofortmassnahmen auf der politischen Ebene stellen kann. Er muss – geeignet aufgestellt – auch sofort Fachkräfte für die Beurteilung verschiedenster möglicher oder bereits aktueller Gefahren und Probleme zuziehen und integrieren können. Die Mitglieder müssen nach bewährten Regeln der Stabsarbeit, wie sie auch in grossen privaten Unternehmen üblich sind, zu arbeiten verstehen.
Sie waren einst Mitglied der Arbeitsgruppe Prios des Bundes, die Verbesserungsvorschläge machen sollte.
Die Arbeit der Gruppe wurde von den Departementen mehr oder weniger sabotiert. Man fürchtete offenbar Machtverlust. Ausdruck dieser Haltung ist auch der Sicherheitspolitische Bericht 2021. In einem Interview in der neuen militärwissenschaftlichen Zeitschrift «stratos» erklärten die Verfasser des Sipol B 2021: «Schon unsere Regierungsform mit starken Departementen ohne starke vertikale Führung hat einen grossen Einfluss. Wir haben keine Regierungskanzlei wie Frankreich, Deutschland…» Wir haben doch nicht sieben Regierungen in Bern! Wenn man nur bedenkt, welche Departemente bei der Pandemiebekämpfung alle einbezogen waren und mit welchen verhängten Problemen sie konfrontiert waren, dann sieht man, wie irrig diese Auffassung ist.
Wie kam es zu dieser Fehlentwicklung?
Es gibt mehrere grundsätzliche Probleme. So waren für die Bedrohungsanalyse «Erwartungen» der Politiker und föderalistische Aspekte als Kriterien massgebend. Bedrohungen richten sich aber weder nach helvetischen Erwartungen noch nach unserem Föderalismus. Manche Ausführungen im Bericht haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Man verschloss die Augen vor der Realität, dabei machte zum Beispiel Putin immer klar, wes Geistes Kind er ist, dass er die alte Sowjetunion wieder herstellen will. Ein anderes Problem liegt im Föderalismus. Verzögerungen durch die breitest mögliche Mitwirkung in der Beschlussfassung können direkt gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip verstossen, wenn die erforderlichen Massnahmen zu spät erfolgen und ihren Zweck nicht erzielen.
Haben Sie ein Beispiel für krasse Mängel im Bericht?
Die Ausrüstungsmängel der Armee bei Kollektivwaffen und anderem Material etwa werden nicht erwähnt. Ziele für die Behebung dieser Mängel, auch von Beständen, wurden nicht gesetzt. Über die Kampfkraft der Armee war im Bericht kein Wort zu lesen. In der Schweiz gilt zudem die kollektive Sicherheit seit Jahren nichts, alles ist auf die individuelle Sicherheit ausgerichtet, von der Terrorabwehr über die häusliche Gewalt bis zur Nichtdiskriminierung. Nichts dagegen, aber es reicht nicht.
Sie haben auch Einschätzungsfehler der globalen Lage kritisiert. Etwa der Gefahr, die durch Russland und China ausgeht.
Der Sipol B kam zum Schluss, dass China und Russland noch nicht über «die militärischen oder wirtschaftlichen Kapazitäten, und noch weniger über sogenannte ‹soft power› verfügten, um die Welt so nachhaltig zu prägen wie die USA». Es ist aber offensichtlich und wir wiesen darauf hin, dass diese beiden Staaten heute von einer diktatorischen, oligarchischen Führung geleitet werden, welche für sich schon wegen ihrer rechtsstaats-, grundrechts- und demokratiefeindlichen Politik hohe Sicherheitsrisiken bilden. Die Annexion der Krim, das Verhalten gegenüber der Ukraine, die menschenverachtende Kriegsführung zu Gunsten Assads in Syrien, zuvor in Tschetschenien, waren nur einige Belege.
Leute wie Christoph Blocher glauben offenbar, der Konflikt gehe die Schweiz nichts an, denn diese sei ja neutral.
Was Herr Blocher sagt, geht am Problem vorbei. Von einer «dauernden Neutralität», wie er behauptet, ist in der Bundesverfassung nicht die Rede. Sie ist in der Bevölkerung als nicht so klarer Begriff aber beliebt – und wird überschätzt, überdehnt. Es gibt zum einen das Neutralitätsrecht, und das ist seit den Haager Abkommen von 1907 Teil des Völkerrechts. Damals war Krieg völkerrechtlich noch nicht verboten. Dieses Verbot kam 1945 mit der UNO-Charta. Zusätzlich kam 1998, in Kraft seit 2002, das «Römer-Statut», Völkerstrafrecht gegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und seit 2010 das Verbrechen der Aggression. Das Römer Statut ist in das schweizerische Recht als Vertrag und die Strafbestimmungen ins Strafgesetzbuch integriert. Gegenüber Kriegsverbrechen gibt es keine Neutralität. Eine Nichtstellungnahme würde die Neutralität zu Lasten der Opfer direkt verletzen.
Kurz: Versagt die Schweizer Sicherheitspolitik?
Ich sage es so: Sie wurde ihrer Verantwortung zuletzt nicht gerecht, klare Analysen vorzulegen und Ziele für die Behebung der Probleme zu formulieren. Interview-Aussagen der Chefin Sicherheitspolitik des VBS, Pälvi Pulli zeigen, dass sie im Silodenken verhaftet ist. Gerade das, was in der Krise unverzichtbar ist, das Mobilisieren und Ausrichten aller Kräfte auf ein festgelegtes Ziel hin, fehlt.
Das klingt nicht gut bezüglich Fähigkeit der Schweiz, sich besser aufzustellen.
Ich hoffe immer noch auf Einsehen. Es scheint bisher, dass nur eine die Schweiz direkt betreffende Notlage oder ein Zwang von aussen, wie zum Beispiel der EU, ein Umdenken in Bewegung setzen könnte. Aber dann ist die Unabhängigkeit, die viel beschworene, längst passé.