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Schreck lass nach – warum wir uns auch an Bilder von Tod und Verwüstung gewöhnen und warum das überlebenswichtig ist

Es ist Krieg und täglich werden die Meldungen schlimmer. Trotzdem ist der erste Schock abgeflaut, zumindest für jene ausserhalb der Ukraine. Doch mit Abstumpfen hat das nichts zu tun.

Krise ist, wenn man morgens aufwacht und merkt: Der Tag beginnt mit einer Last, welche der Schlaf nicht lindern konnte. Dieses Gefühl kennen wir vom Anfang der Corona-Pandemie 2020, nach Ereignissen im privaten Umfeld und vielen erging es auch so in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine.

Krieg in Europa – ein Schock. Und jetzt? Die meisten Menschen ausserhalb der Ukraine erleben wieder ganz unbeschwerte Momente, verdrängen die schreckliche Meldungen, auch wenn sie schlimmer werden. Zeigt das, wie schnell wir moralisch abstumpfen, Hauptsache wir sind noch in Sicherheit?

«Nein», sagt Mark Laukamm, Psychologe an der Universität St. Gallen. «Es ist normal, dass wir den Schockzustand überwinden.» Man müsse unterscheiden zwischen der politischen Sicherheitskrise und der persönlichen Krise. Erstere dauert an, aber auf der persönlichen Ebene überwinden die Menschen sie oft schneller. «Das muss so sein, nur so werden wir wieder handlungsfähig», sagt Laukamm. «Nur weil wir uns mit schrecklichen Dingen abfinden können, ist es auch möglich, dass Leute in Krisengebieten arbeiten, etwa als Rettungssanitäter. Moralisch abgestumpft sind diese keineswegs, im Gegenteil: Sie handeln.»

Eine Frau geht durch die zerstörten Strassen von Mariupol.
Alexei Alexandrov / AP

Wissen kann ein Sicherheitsgefühl verschaffen

Im Schockzustand zu sein bedeutet also, zu erstarren. «Es dauert eine Weile, bis wir diesen überwunden haben. Das ist ein gesunder Prozess.» Dieser ist übrigens auch aus der Neurowissenschaft bekannt unter den Begriffen Akklimatisation, Gewöhnung und Anpassung. Der englische Psychologe und Lerntheoretiker George Humphrey schrieb darüber schon 1933 in «The nature of learning in its relation to the living system» und nannte dazu das harmlose Beispiel eines Säuglings, der anfangs blinzelt, wenn man hinter dem Rücken in die Hände klatscht und sich nach ungefähr siebenmal daran gewöhnt: Der Stimulus im Gehirn nimmt ab.

Klatschen ist nicht mit einem Bombeneinschlag zu vergleichen. Und im Krieg bleibt der Schrecken unberechenbar. Um aus dem Schock herauszukommen muss der Mensch handeln: Meist gibt es zuerst ein riesiges Informationsbedürfnis. «Wissen schafft ein Sicherheitsgefühl und man erfährt, was nun zu tun ist», sagt Laukamm. Deswegen diskutieren wir auch so viel über Corona oder den Krieg; wir wollen verstehen, was da passiert. Das hilft aus der Ohnmacht herauszukommen. In der Pandemie erfuhren die Leute beispielsweise, wie man versuchte schnell Impfstoffe zu entwickeln, wie die Länder zusammenarbeiteten, Ressourcen mobilisierten und aktuell überdenkt Europa seine Sicherheitsarchitektur und hilft der Ukraine. Das lässt Hoffnung schöpfen.

Informationen helfen auch, im Alltag die Dinge wieder selbstbestimmt kontrollieren zu können: Wann man eine Maske trägt zum Beispiel oder sich impfen lässt.

Verdrängen ist zu einem gewissen Grad wichtig

Wie gut das gelingt, ist individuell. «Nicht jeder entwickelt nach einer Krise ein Trauma, das kommt sehr darauf an, wie man das Ereignis in seine Lebensgeschichte integrieren kann», sagt Laukamm. «Und jeder Mensch hat unterschiedliche Ressourcen, bringt eine unterschiedliche Verletzlichkeit mit sich.» Resiliente Personen gehen davon aus, dass sie einen Ausweg aus der Krise finden, sie sehen sie eher als Herausforderung.

Die schlechteren Nachrichten, also wie viele Personen beispielsweise trotzdem an Corona sterben, werden manchmal ausgeblendet. Und selbst Flüchtlinge können nicht ständig an das Leid zuhause denken. «Auch das ist nötig, um funktionsfähig zu bleiben», sagt Laukamm. Es sei deshalb richtig, zeitweise ohne News zu leben oder sie besser zu dosieren.

Wichtig ist die richtige Balance: Der Schockmoment hilft um sich auf etwas Neues auszurichten und dann ist es eine Pendelbewegung zwischen dem Akzeptieren der neuen Tatsachen und dem Optimismus, dass es trotz allem gut kommen wird. «Wir pendeln unbewusst dazwischen hin- und her», sagt Psychologe Laukamm. Wem dies nicht gelingt, driftet in ein Extrem ab: Man bleibt entweder ohnmächtig und schottet sich ab oder kippt ins Verharmlosen und wird hyperaktiv. «Das liess sich in der Pandemie gut beobachten.»

Die Welt ist unvorhersehbar, das ist nun mal so

Wer sich aber seine eigene Realität aufbaut und zu sehr verharmlost, der läuft Gefahr, dass ihn der Schock viel stärker trifft, wenn ihn die Realität einholt: Also wenn man Corona verharmlost und dann doch schwer erkrankt, beispielsweise.

Als Menschen seien wir jedoch eigentlich auf ein gutes Problembewältigung ausgerichtet, es ist sozusagen unsere Spezialität, sagt Laukamm. «Wir jonglieren ständig Probleme. Und wir schätzen Dinge laufend falsch ein, denn die Welt ist unvorhersehbar. Wichtig ist eben, dass wir nach dem Schock wieder handlungsfähig werden. Ein Schock setzt auch Energie frei.»

Dass wir unbemerkt moralisch abstumpfen, glaubt Laukamm nicht. Viel eher würden wir unserem Menschenbild folgen, wenn wir entscheiden, ob wir helfen oder wegsehen. «Es ist absolut bewusst entscheidbar, ob man Flüchtlingen helfen will oder nicht. Das ist keine Frage der psychischen Überlastung. Im Gegenteil kann es einem guttun.»