Strafen im Heimatland absitzen? «Kaum umsetzbar», urteilt Aargauer Ost-Experte – und schlägt heikle Lösung vor
Eine Haftstrafe in der Schweiz ist zu wenig abschreckend. Lieber hier Gefängnis als zu Hause arbeiten, so würden es manche Straftäter aus dem Ausland sehen – argumentierten zumindest die Jungfreisinnigen Aargau in einer Mitteilung letzte Woche.
Unsinnig, konterten die anderen kantonalen Jungparteien. Die Forderung, Kriminaltouristen künftig im Heimatland zu bestrafen, sei der falsche Ansatz, schrieben die Juso. Damit werde nur das «rassistische Narrativ» der SVP unterstützt. Melanie Holle von den Jungen Grünen Aargau kritisierte, die Forderung sei viel zu schwammig und überspitzt.
Simpel, aber kaum umsetzbar
Dass es sich dabei offenbar nur um Wahlkampf handelt, davon ist auch Michael Derrer überzeugt, Wirtschaftsprofessor und Bezirksrichter aus Rheinfelden, der zehn Jahre für die GLP politisiert hatte. Der Vorschlag der Jungfreisinnigen sei ein wenig simpel. «Und leider kaum umsetzbar», sagt Derrer gegenüber der AZ.
Unbestritten ist, dass es Handlungsbedarf gibt. «Kriminaltourismus ist auf jeden Fall ein Problem», sagt Derrer. Er habe sich in der Vergangenheit intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt. Man könne vermutlich jährlich mehrere Millionen sparen, wenn die Anzahl Kriminaltouristen reduziert würde.
Derrer spricht mehrere osteuropäische Sprachen und wurde von der Polizei auch als Dolmetscher eingesetzt. Im Jahr 2018 wurde er in Bukarest vom rumänischen Justizminister empfangen und diskutierte mit ihm Ansätze zur Verringerung von Kriminaltourismus. Dieser habe sich im Grundsatz für eine Auslieferung von Häftlingen ausgesprochen. Bei der Umsetzung gibt es aber ein grosses Hindernis: «Die Strafen, welche Kriminaltouristen zu verbüssen haben, sind in der Regel kürzer als die Dauer eines Auslieferungsverfahrens.» Heisst im Klartext: Bevor ein verurteilter Einbrecher ausgeliefert werden könnte, hätte er seine Haftstrafe bereits abgesessen.
Niemand will zuständig sein
Ein Vorschlag von Derrer war, eine mediale Abschreckungskampagne in den Herkunftsländern zu führen. Sie soll Ersttäter, die von Drahtziehern als «Kanonenfutter» in die Schweiz geschickt werden, von solchen kriminellen Aktivitäten abhalten. So könnten beispielsweise Fernsehbeiträge produziert werden, schlägt Derrer vor, in denen Häftlinge in der Schweiz porträtiert oder Fahndungskampagnen der Schweizer Polizei mit Helikoptern und Hunden dokumentiert werden. So könne man zeigen, dass das keine lohnende Perspektive sei. Beim rumänischen Justizminister sei er damit auf Zustimmung gestossen.
Zuständig wollte hierzulande aber niemand sein. Zwar habe der damalige Aargauer Regierungsrat Urs Hofmann sich für seine Idee interessiert, so Derrer. Der Aargau brachte den Vorschlag auch in die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren ein, diese wollte jedoch keine internationalen Aufgaben übernehmen. Die Bundeskriminalpolizei befasst sich nur mit Verbrechen eines gewissen Schweregrades. «Einbruchdiebstahl liegt unter ihrem Radar», so Derrer. Migrationsbehörden seien ebenfalls nicht zuständig. Bundesrätin Karin Keller-Sutter habe ihm geschrieben, dass ihrem Departement das Mandat in der Sache fehle.
Verhandlungen mit «Ostmilliarde» verbinden
Für Derrer könnte der Schlüssel in der sogenannten «Ostmilliarde» liegen. Häufig auch Kohäsionsmilliarde genannt, sind das Finanzbeiträge, die Teil der bilateralen Verträge mit der EU sind. Die Schweiz zahlt dabei Millionenbeträge an EU-Länder in Osteuropa, zum Beispiel Bulgarien, Rumänien oder Polen. Die erste «Ostmilliarde» ist ausgezahlt, die Verträge für den zweiten Schweizer Beitrag sind bereits unterschrieben. Die einzelnen Projekte seien aber noch nicht bestimmt, so Derrer. «Dort könnte man Aktivitäten zur Verhinderung von Kriminaltourismus integrieren.»
Schwierig wären solche Verhandlungen mit Sicherheit. Um die Beziehungen zur EU und zu deren Mitgliedstaaten nicht zu belasten, bräuchte es einiges an diplomatischem Fingerspitzengefühl. Denn, so erklärt Derrer, auch wenn das Problem Kriminaltourismus in persönlichen Gesprächen mit ausländischen Staatsvertretern bestätigt wird, ist es heikel, auf offizieller Ebene festzuhalten: Diese Kriminaltouristen stammen aus unserem Land.
Aber, so sagt Derrer: «Ganz aufgegeben habe ich die Hoffnung noch nicht.» Denn letztlich würde mit einer Eindämmung des Kriminaltourismus allen Beteiligten geholfen: der Schweiz, dem Image der beteiligten Länder und auch den Menschen, die von einem solchen «Karriereweg» abgehalten werden könnten.