Rolling Stones überragend: «Hackney Diamond» ist das beste Album des Monats Oktober
Rolling Stones: Hackney Diamond
Die Rolling Stones waren am Boden zerstört, als am 24. August 2021 Charlie Watts starb. Der unterschätzte Drummer war für die Band nicht nur musikalisch wichtig, er war ihr Herz und die Seele. Die beiden Alphatiere Jagger und Richards waren seit Jahren zerstritten und gingen sich, wenn immer möglich, aus dem Weg. Nur Watts konnte zwischen den beiden Kampfhähnen vermitteln. Wer sollte künftig die Wogen glätten?
Und überhaupt: Der bald achtzigjährige Keith Richards hatte es sich inzwischen zu Hause bei seiner Familie bequem gemacht und genoss seinen Ruhestand als Rock-Rentner. Dazu kämpft er mit seiner anhaltenden und fortschreitenden Arthritis, die ihm das Gitarrenspiel zunehmend erschwert.
Mehr als achtzehn Jahre sind seit dem letzten Album «A Bigger Bang» verstrichen. Der letzte Versuch, neue Songs zu kreieren, scheiterte kläglich und mündete im Blues-Album «Blue & Lonesome». Der Kreis der Band, die mit Cover-Stücken ihrer Blueshelden begonnen hatte, schien sich damit geschlossen zu haben. Es war ein Abgesang, die Stones waren fertig. Alles war gesagt, und niemand hatte auf ein Revival gewettet. Erst recht nicht auf ein solch starkes Spätwerk wie «Hackney Diamonds».
Schon die erste Single «Angry» wurde positiv gewürdigt. Der Song ist auch ganz okay. Aber eigentlich nicht mehr als Stones ab der Stange. Solche Riffs könnte Richards täglich im halben Dutzend aus seiner Klampfe schütteln. Gemessen an den besten Songs von «Hackney Diamonds», ist «Angry» jedenfalls biederes Durchschnittswerk.
«Get Close» zum Beispiel, mit Elton John am Klavier und einem Sax-Solo, das an den verstorbenen Bobby Keys erinnert, ist ein federndes Schlachtross mit knackigen Gitarrenakzenten und einem wunderbar mehrstimmigen Refrain. Locker und lässig geht es auch in der Country-Ballade «Depending On You» zu. Untermalt von Slide-Gitarren geht im Refrain die Sonne auf. Du meine Güte … wann hatten die Stones zuletzt solche Refrains?
Die beiden Songs werden nur noch von «Sweet Sounds From Heaven» übertroffen. Diesem epochalen Gospelsong, diesem siebenminütigen heiligen Glanzpunkt des Albums, mit den Gästen Stevie Wonder und einer grossartigen Lady Gaga. Aber auch der achtzigjährige Jagger gibt alles, reizt und kitzelt die Blue Notes wie in jungen Jahren – oder besser. Schüchtern fragen wir uns: Erleben wir heute sogar den besten Jagger?
Nostalgie ist ein treuer Begleiter von «Hackney Diamonds». In zwei Stücken gibt noch einmal der verstorbene Charlie Watts den Takt an. In «Mess It Up» wagen sich die Stones auf den Dancefloor und machen dort eine ganz passable Figur. Und im rockigen «Live By The Swords» gesellt sich der ehemalige Bassist Bill Wyman nach dreissig Jahren Absenz dazu. Rendez-vous und Vermächtnis, Hello und Goodbye. Wir verdrücken zwei Tränen.
Natürlich darf der Blues nicht fehlen. «Dreamy Skies» schleppt sich träge vorwärts, die Zeit steht still. Zum Ausklang interpretieren Jagger und Richards im Duett «Rolling Stone» von Muddy Waters. Archaisch, roh, stampfend und dampfend. Der Sänger singt verrucht, klagend und brilliert auf der Blues-Harp. Ganz gross, unnachahmlich. Es ist eine Würdigung für Blues-Legende Muddy Waters, der die Stones seit ihren Anfängen inspiriert hat. Wieder einmal schliesst sich der Kreis.
Und wir staunen: Wie haben die Stones dieses exzellente Album geschafft? Wie war dieser ungeahnte Effort möglich?
Erstens, das Phänomen Mick Jagger: Ursprung des Revivals ist bestimmt dieses unermüdliche, singende Duracell-Häschen. Körperlich und stimmlich noch in blendender Form, ist Jagger der Antreiber, der An- und Aufpeitscher, der es auch im hohen Alter noch einmal wissen will.
Zweitens, die Versöhnung: Jagger und Richards haben sich versöhnt. Keine Sticheleien, kein Spott, die Giftpfeile bleiben im Köcher. Stattdessen loben sich die beiden gegenseitig über den grünen Klee. Das Songwriting funktioniert in dieser friedlich-einträchtigen Atmosphäre besser denn je. Vielleicht hat der Tod von Watts die beiden zur Vernunft gebracht.
Drittens, der Spassfaktor: Man hört es in den Songaufnahmen, dass es die alten Buben wieder geniessen, miteinander Musik zu machen. Im fast schon punkigen «Bite My Head Off» mit Gast Paul McCartney am Bass spürt man ihre Lust, die Sau rauszulassen und Krach zu machen. «Come on, let’s hear some fucking Bass», ruft Jagger im scheppernden Bass-Solo des Ex-Beatle. Auch in «Whole Wide World» ist der Spassfaktor gross. Die Band entfacht ein Feuer, das man der Band nicht mehr zugetraut hätte. Eigentlich erzählt der energiegeladene Song das jüngste Kapitel in der Geschichte der Stones: «Du denkst, die Party sei vorbei. Dabei geht es gerade erst los.»
Und schüchtern fragen wir uns: Erleben wir heute sogar die besten Rolling Stones? Es gibt jedenfalls Kritiker, die sehen «Hackney Diamonds» auf der selben Stufe mit den epochalen «Beggars Banquet» (1968), «Let It Bleed» (1969), «Sticky Fingers», «Exile On Main Street» (1972) und «Some Girls» (1978). Das finden wir dann doch etwas übertrieben. Aber gleich dahinter hat es in der ewigen Bestenliste der «hardest working band» noch reichlich Platz. «Hackney Diamonds» ist sicher das beste Stones-Album seit langem.
Und wie geht es nun weiter? Gemäss André Béchir von TAKK Entertainment ist eine Amerika-Tour geplant. Vielleicht machen die Stones auch noch einmal Party in der Schweiz. Aber was ist danach? Nein, diesmal wetten wir nicht mehr!
Steven Wilson: The Harmony Codex
Den Traum vom Mega-Rockstar hat der englische Gitarrist, Sänger und Komponist nach 30 Jahren aufgegeben. Umso befreiter und besser wirkt jetzt seine Musik. Mit «The Harmony Codex» hat er ein Meisterwerk geschaffen.
Die ganz grossen Massen hat der englische Sänger, Gitarrist und Komponist Steven Wilson nie angezogen. Zu anspruchsvoll, zu ambitioniert und zu komplex ist seine Musik. Immerhin hat er mit seiner 1987 gegründeten Band Porcupine Tree massgeblich dazu beigetragen, den in die Jahre gekommenen Progressive Rock zu erneuern und wieder salonfähig zu machen.
Der inzwischen 55-jährige Wilson ist ein Getriebener, ein Musik-Freak mit einer unglaublichen Schaffenskraft. Parallel zu Porcupine Tree hat er im Auftrag von Bands wie Yes, Roxy Music, Jethro Tull, King Crimson und Tears For Fears ihre alten Alben «remastert» und auf den aktuellen, soundtechnischen Stand gebraucht. Daneben verfolgte er, mit nicht weniger Ehrgeiz, eine Solokarriere und erreichte dort mit seinen Alben regelmässig die vorderen Ränge, aber nie ein Nr.1-Album. Auch wenn er zuletzt tief in die Kiste des Electro-Pop griff – Steven Wilson ist kein Hitschreiber.
«Als ich 16 war, wollte ich Mega-Rockstar werden», erzählt er im aktuellen «Rolling Stone»-Magazin. 30 Jahre lang habe er versucht, «diesen Traum zu verwirklichen». Es hat nicht geklappt. Diesen Plan habe er nun aufgegeben.
Vielleicht wirkte deshalb seine Musik, bei aller Brillanz, immer auch etwas überangestrengt. Vielleicht haftete ihr deshalb auch etwas Verbissenes an. Davon ist auf «The Harmony Codex» nichts mehr zu spüren. Steven Wilson wirkt befreit. Im Gespräch betont er, dass er keinen Plan verfolgt habe, sondern sich einfach von der Musik habe treiben lassen. Den Antrieb zur Grösse, zum Monumentalen, zum Epischen hat er immer noch. Stücke wie das Titelstück, «Staircase» oder «Impossible Thightrope» können denn auch mal um die 10-Minuten dauern, ohne die Spannung zu verlieren. Sie wirken nicht konstruiert, die Musik fliesst.
Für «The Harmony Codex» hat Wilson nicht mit einer festen Band gearbeitet, sondern für jedes einzelne Stück die passenden Musiker ausgesucht. So erklingt im Eröffnungsstück «Inclination» die verwunschene Trompete des Norwegers Nils Petter Molvaer. Auf «Rock Bottom» singt die israelische Sängerin Ninet Tayeb. An «Impossible Tightrope» sind gleich vierzehn Musiker beteiligt. Sie alle waren aber nicht im Studio bei Wilson, sondern haben ihre Beiträge Mastermind Wilson per Mail zukommen lassen.
Auch fällt es schwer, die Musik stilistisch einzuordnen. Klar schimmert da und dort die Liebe zu seinen Prog-Helden King Crimson oder Yes durch, aber vor allem die melodische Seite von Pink Floyd («What Life Brings» und «Rock Bottom») scheint es ihm angetan zu haben. Das Album hat etwas Versöhnliches.
Der wilde Ritt im jazz-rockigen «Impossible Tightrope» mit ausgedehnten Soli von Theo Travis am Sax und Adam Holzman an den Keys ist die Anti-These dazu. Wilson profitiert von der Experimentierfreudigkeit der letzten Jahre und lässt seinen riesigen Erfahrungsschatz quer durch alle Stile einfliessen. Da sind Rock, Prog, Jazz, Electro-Pop, Electronica-Spielereien und das gross angelegte Ambient-Abenteuer auf «Harmony Codex». Wilson spielt virtuos mit Intros, Bridges, Breaks, Harmoniefolgen, lässt seine Gitarre singen und greift auf sein grosses musikalisches Vokabular an Ausdrucksmöglichkeiten zurück.
Zum Mega-Popstar wird Steve Wilson wohl auch mit «The Harmony Codey» nicht. Aber er hat ein Album von einem musikalischen Reichtum geschaffen, wie es sie heute im Pop nur noch ganz selten gibt. Wir ziehen den Hut vor diesem Weltmeister aller Kategorien und Stile.
Shake Stew: Lila
Die gefeierte Wiener Kultband Shake Stew ist bekannt für ihre treibenden, hypnotischen Grooves und ekstatischen Soli. Mutig widersetzt sich die Band diesmal den Erwartungen und schleicht sich mit luftigem orientalischem Touch in ihr sechsten Album «Lila». Der Sound ist flaumig-flauschig, bevor Shake Stew in den afrikanischen Kontinent eintaucht, ein Feuer entfacht und den Eintopf brodeln lässt. Unwiderstehlich, diese Spannungsbögen.
Joshua Redman feat. Gabrielle Cavassa: Where Are We?
Die Geschichte des Jazz hat immer auch das Selbstverständnis und die Stellung der Afro-Amerikaner in der US-Gesellschaft gespiegelt. Wir erinnern uns an Billie Holidays «Strange Fruit» (1939), die erschütternde Anklage gegen Lynchjustiz. An Sonny Rollins’ Friedens- und Freiheitsapell «Freedom Suite» (1958), an Charles Mingus’ «Fables Of Faubus» (1959), das sich gegen den rassistischen Gourvernor Faubus von Arkansas richtete sowie an das politische Konzeptalbum «We Insist! Freedom Now Suite» von Max Roach mit der Sängerin Abbey Lincoln. Sie gehören zu den leidenschaftlichsten und eindrücklichsten Dokumenten des musikgewordenen Protests.
An diese Tradition knüpft nun auch der amerikanische Weltklasse-Saxofonist Joshua Redman, 54, mit seinem Album «Where Are We» an. Es ist aber kein zorniges Album. Der Protest ist viel subtiler und raffinierter. Ein bestens in die US-Gesellschaft integrierter Afro-Amerikaner erkundet mit musikalischen Mitteln die Seele Amerikas vor den nächsten Schicksalswahlen. Vordergründig ist es eine musikalische Reise durch die Vereinigten Staaten, ein Konzeptalbum, in dem sich jeder Song auf eine Stadt oder eine Region bezieht. Unter anderen Standards wie «Manhattan», Bruce Springsteens’ «Streets Of Philadelphia», Count Basies «Goin To Chicago» oder «By The Time We Get To Phoenix» des Songschreibers Jimmy Webb. Wunderbar interpretiert von Musikern wie dem Pianisten Aaron Parks, dem Bassisten Joe Sanders, dem Schlagzeuger Brian Blade – und: erstmals mit einer Sängerin: Der ausdrucksstarken, jungen Gabrielle Cavassa.
Es sind eigentlich unverdächtige Stadtportraits, zum Teil Hymnen auf die jeweiligen Sehnsuchtsorte und ihre Menschen. Amerika könnte ja so schön sein. Aber gleich die ersten Töne von Redmans unbegleiteten Saxofon-Solo weisen auf die doppelbödige Bedeutung hin. Eine Reverenz an Woody Guthries «This Land Is Your Land», diese berühmte Hymne des anderen Amerikas. Die Ikone des politischen Folksongs hat den Song als Parodie auf das unkritisch patriotische «God Bless America» geschrieben. «This Land Is Your Land» ist eine Liebeserklärung an ein wunderbares Land, das genug Raum für alle hat, in dem aber auch grosses soziales Unrecht herrscht. Bezeichnenderweise mündet das Sax-Intro in einen quälenden, schmerzerfüllten Schrei, der in die Eigenkomposition «After Minneapolis» überleitet. Unausgesprochen wird an die Tragödie um George Floyd erinnert und Cavassa singt «Lass die Hoffnung bleiben. So werden wir frei sein».
Die Botschaft Guthries ist auch die Botschaft von Joshua Redman. Nostalgie-Schnulzen wie «I Left My Heart In San Francisco» kontrastieren mit Schreckensorten der jüngeren Geschichte. Neben «Minneapolis» auch «Baltimore», wo 2015 auch Freddie Gray Opfer von Polizeigewalt wurde. Auf seiner Reise durch Amerika trifft Redman immer wieder auf Missstände und wird mit rassistisch motivierter Diskriminierung und Gewalt konfrontiert. Besonders eindrücklich ist, wie Redman an das rassistisch motivierte Bombenattentat in Bermingham, Alabama von 1963 erinnert. Den harmlosen Standard «Stars Fell On Alabama» lässt er in John Coltranes erschütternde Anklage «Alabama» übergehen.
Für das Jazz-Magazin «rondo» ist es ist kaum ein Zufall, dass es im finalen «Where Are You» um Trennung und eine verflossene Liebe geht. Der Song weist auf die immer grösser werdende Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Amerika macht es aber vor allem seinen afro-amerikanischen Mitbürgern schwer. Beziehungsstatus kompliziert.
To Athena: The Movie
«Projekt». Tiffany Limacher spricht immer von ihrem «Projekt». Als wäre es eine Modelleisenbahn, ein Küchenumbau oder eine geplante Wanderung. Ihr «Projekt» heisst To Athena. To wird dabei nicht englisch, sondern wie bei «Totsch» ausgesprochen und Athena ist tatsächlich ihr zweiter Vorname.
«Eigentlich bin das schon ich», sagt sie und blinzelt in die Luzerner Herbstsonne, «vielleicht sage ich das, um ein wenig Abstand zu meinem Musikerinnen-Dasein zu bekommen.» Und wo «Projekt» distanziert und kühl klingt, ist bei To Athena das Gegenteil Tatsache: Ihre Musik strahlt viel Nähe und Herz aus. «The Movie» heisst ihr Album, und wäre es tatsächlich ein Film, so wäre es ein Drama. Eines in Schwarz-Weiss. Nicht mit klassischem Happy End, aber mit einem Funken Hoffnung.
Die Distanz zwischen Tiffany Limacher und To Athena ist nötig, da, wenn die Welten zu fest verschmelzen, auch sonst vieles zu kurz kommt. «Ich musste lernen, dass ich nicht 24/7 nur mit meiner Musik rumstruggeln muss», sagt die 29-Jährige, während ihr Cappuccino kalt wird. Sie berichtet von Tinnitus und anderen Burn-out-Symptomen, die sie erst im letzten Jahr plagten, als vieles zu viel war. «24/5 reicht komplett aus», lächelt sie. Schon Drama, aber immerhin eines mit Lerneffekt.
Vor dem Warnschuss des Körpers hatte in den letzten beiden Jahren das Musikerinnenleben von To Athena so richtig Fahrt aufgenommen. Ein gelungenes Erstlingsalbum, gute Kritiken, die erste Spotify-Klick-Million für «Angscht». Das Projekt war auf Kurs. Und es blieb auf Kurs. Auch nach der Pause. Kurz danach gab es sogar den Artist Award an den Swiss Music Awards.
Weiter auf Kurs ist sie sicherlich auch dank einem Stipendium von der Basler Stiftung Árvore. Die Musikerin erhält dabei über vier Jahre monatlich einen Zuschuss. Kein Riesenbatzen, aber WG-Zimmer und Krankenkasse sind bezahlt. So eine Art Mini-bedingungloses-Grundeinkommen. «Es hat enorm viel Druck weggenommen», sagt die Luzernerin, die vorher neben ihrem «Projekt» auch noch Gesang unterrichtete.
Befreit, beseelt und bereit macht sie sich an die Arbeiten zum zweiten Album. Sie wechselt dabei Sprachen, switcht zwischen Schweizerdeutsch und Englisch, variiert aber auch im Sound. Jedes Lied ist eine kleine Musikdose, mal etwas reduzierter, mal durchaus opulent und mit Streicherschmelz. Ein Hang zum musikalischen Drama ist unüberhörbar. «Ich wollte mich nicht einschränken», sagt sie.
Das erklärt vielleicht auch, warum die Liveband von To Athena ganze neun Leute auf die Bühne bringt. «Das mag wirtschaftlich wenig Sinn machen, aber für meine Musik brauche ich das unbedingt», so Limacher. Geschrieben wird im Alleingang, eingespielt und produziert werden die Songs bis auf die String-Section nur im Duo, zusammen mit Linus Gmünder (der in der Band auch Bass spielt), «aber live benötige ich die Energie dieser grossen Gruppe. Sie bringt uns weiter».
Schnitt zurück zum Drama. Zu den Texten dieser Platte. Da kann die Musik noch so smooth wegtänzeln, im Grundton schwingt da immer eine schwerherbstliche Melancholie mit. «Es fällt mir halt auch wirklich leichter, Songs zu schreiben, wenn es mir nicht so gut geht», sagt sie. Und schiebt gleich nach: «Mir geht es aber eigentlich meistens gut. Jetzt zum Beispiel sogar sehr gut.»
Irgendwie verstehen wir sie ja. Würden wir nur von Songtexten auf einen Menschen schliessen, dann wäre Tiffany Limacher ein stets etwas hadernder Mensch. Oftmals drehen sich die Texte um das Finden der eigenen Rolle, des eigenen Platzes. In der Welt, in der Beziehung, bei sich selbst.
In «Wer I Be» thematisiert sie beispielsweise die Selbstaufgabe, nur um anderen gerecht zu werden und zu gefallen. «Ich weiss ned wer i be, ond beni de no mech, wenn alles wäge isch, vo dem woni gmeint ha das i sig?», singt sie mit einer Stimme, die tief schürft. In «The Movie» geht es darum, dass sie sich im falschen Film wähnt. Immer im Wissen darum, dass dieser nicht gut ausgeht und der Moment für den Rewind-Button bereits erfolgreich verpasst wurde.
Das balanciert immer zwischen augenzwinkerndem Chanson und theatralem Pop. To Athena hat keine Angst vor der grossen Geste und das steht ihr gut. Es entstehen catchy Songs, die manchmal auch viel Zug entwickeln können, dabei aber nie den Tiefgang vergessen. Vielleicht einen Mini-Zacken zu verkünstelt, um die ganz grosse Masse zu erreichen, aber dafür genau genug zugänglich, um abseits der allzu ausgelatschten Pfade eine solide Fanbasis zu finden.
Immer wieder sprudeln Ideen aus Limacher. Konzerte im Ausland. Eine Tour nur in Kinos. Ein Album voller fröhlicher Songs. To Athena hat noch viele Ideen. Soeben hat sie eine GmbH gegründet, mit der sie «bitz Ordnung in mein finanzielles Chaos» bringen will, lacht sie. Spätestens jetzt ist es tatsächlich irgendwie ein «Projekt». Aber eines mit viel Seele. Und einem guten Schuss Drama.
Priya Ragu: Santhosam
Auf der Website der Dorfkorporation Bazenheid findet sich derzeit ein Aufruf, doch bitte ein feierliches Adventsfenster zu gestalten: «Wir freuen uns auf einen lichterfüllten Advent.» Und die Theatergesellschaft feiert bald Premiere mit dem Stück «Zoff im Paradies». Dort im Ostschweizer Industriedorf mit rekordhohem Ausländeranteil wuchs eine der vielversprechendsten Künstlerinnen der Schweiz auf: Priya Ragu.
Als Tochter tamilischer Eltern, die vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen sind, entdeckte sie dort ihre Liebe zur Musik. Schliessen wir kurz die Augen und lauschen dem Sound von Priya Ragu, dann sind wir fast überall, nur nicht in Bazenheid. Es klingt nach amerikanischem R’n’B, nach Londoner Grime, und dann schlängeln sich da immer wieder indisch anmutende Elemente ein. Es ist Weltmusik. Aber da sind mehre Welten drin. Weltenmusik.
Auch sonst geht Ragu nicht den gewohnten Weg. Im Social-Media-Jugendwahn-Zeitalter lanciert sie ihre Karriere erst richtig im Endspurt auf die 40 zu. Dabei setzt sie schon länger auf die Karte Musik. Den Durchbruch schaffte sie 2020 in England. Da erhielt sie von Warner, einem der grössten Musiklabels der Welt, einen Plattenvertrag. Es folgten einige Streaming-Hits mit mehreren Millionen Plays. Ragu verbringt einen grossen Teil ihres Lebens mittlerweile in England.
Was auch Teil der Wahrheit ist: So richtig explodiert ist Ragu noch nicht. Neben den grossen Streaming-Abräumern gab es auch viele Titel, die nicht komplett zündeten. Für den ganz grossen Markt ist ihr Werk manchmal einen Tick zu verschnörkelt und dann wieder zu smooth. Nur selten, etwa auf «One Way Ticket», ist es so richtig catchy für die Disco. Priya Ragu macht, wohl komplett bewusst, nicht Musik, die sofort hängen bleibt. Dass es nicht zu breiig wird, dafür sorgt ihre Stimme. Mit viel Soul muss sie sich nicht vor internationaler Konkurrenz verstecken. Zusammen mit ihrem Bruder, der als Produzent Japhna Gold mitmischt, kreiert sie einen federnden Sound, der mitwippen lässt und sich trotzdem viel Lust am Experiment lässt. Im Schlusstrack «Mani Osai» singt sie auf Tamilisch. Auch der Musikteppich ist traditionell angehaucht. Weit weg vom kosmopolischen Groove der 14 Songs vorher. Eigentlich ein Stilbruch und das geht selten gut, bei Ragu aber schon. Es ist auch einer jener Momente, die die sri-lankisch-schweizerische Sängerin komplett von der Konkurrenz ab-heben.
So gut und mit Anspruch gebastelt das auch sein mag, es ist unverkennbar, dass hier schon mit einem gewissen Ehrgeiz produziert wurde. Solch klingende Culture-Clashs sind spätestens, seit sich Streaming durchgesetzt hat, eines der Liebkinder der Musikbranche. Wer an mehreren Orten daheim ist, wird auch an mehreren Orten gehört. Das Next Big Thing in London ist auch in Mumbai oder Bazenheid nur einen Klick entfernt.
Der Anspruch, ennet aller Weltmeere zu funktionieren, mag dann und wann dafür sorgen, dass der Sound leicht verwässert. Bei Priya Ragu geht es vielfach gut. Und wenn sie in «Black Goose» auch noch einen Zacken Wut in die Texte packt, dann wird es sogar dringlich. «Stay alive to keep a dream alive like Mister Martin Lu», rappt sie gegen Polizeigewalt und rassistische Unterdrückung.
«Santhosam», so heisst die Platte, ist das tamilische Wort für «Glück». Vieles an dieser Scheibe macht tatsächlich fröhlich. Dieser Groove, diese Stimme und dieser Duft nach Welt. Priya Ragu straight outta Bazenheid, für all die Welten da draussen.
Sampha: Lahai
Wenn Sampha Musik macht, dann bewegt sie sich durch den Raum. Sie tänzelt, sie zirpt, sie frickelt, sie zuckt von einer Wand zur anderen. Das ist mal fiebrig-aufregend, dann wieder gebremst-entspannt. Dazu singt Sampha mal hoch im Falsett, oder er rappt. Auf jeden Fall legt er hier ein unglaublich spannendes Stück modernen Soul vor. Wir lassen uns dankbar von dieser Musik umarmen und nehmen die Wärme an, die sie ausströmt. Ein Fall für die Bestenlisten.
Bänz Oester & The Rainmakers: Gratitude
Hymnische Kraft, Intensität und Ausdrucksstärke. Der Berner Bassist und Bandleader Bänz Oester knüpft mit seinen Rainmakers an die Tradition des sogenannten Spiritual Jazz, die Ende der 60er-Jahre im Umfeld von John Coltrane entstand. Die Band ist ein Ereignis und topaktuell. Das hat vor allem mit der individuellen Klasse aller Beteiligten zu tun. Neben Oester brillieren der spanische Saxofonist Javier Vercher sowie die südafrikanischen Musiker Afrika Mkhize (Piano) und Ayanda Sikade (Schlagzeug). Umwerfend.
Wilco: Cousin
Ursprünglich dem Alternative Country zugerechnet, verschieben Wilco seit Jahren musikalische Grenzen, überaus eigenwillig und in alle möglichen Richtungen. Das Ergebnis muss man nicht immer lieben, aber langweilig wird es nie. Nachdem sich die Band mit dem letzten Album «Cruel Country» (2022) auf ihre Wurzeln besonnen und damit die Herzen vieler Fans erfreut hat, folgt nun mit ihrem 13. Studioalbum «Cousin» eine Kehrtwende.
Obwohl Frontman Jeff Tweedy seit Jahren selbst Alben etlicher Musikgrössen produziert – von Mavis Staples über Richard Thompson bis Rodney Crowell -, greifen Wilco hier erstmals seit sehr langer Zeit wieder auf Hilfe von aussen zurück. Und eine bessere Wahl als die walisische Musikerin und Produzentin Cate Le Bon, das zeigen alle zehn Songs auf «Cousin», hätte sie kaum treffen können.
Auf dem unvermittelt aus Klangrauschen entstehenden Opener «Infinite Surprise» legt sich Soundschicht um Soundschicht über die heisere Stimme von Tweedy. «It’s good to be alive, it’s good to know we die», singt der, bevor das aufwühlende Stück unter disharmonischem Gitarrengeheul allmählich erstirbt und am Ende nur Störgeräusche hinterlässt.
An den Liedern hat die Band seit längerem gefeilt. Schon vor über einem Jahr – beim Erscheinen von «Cruel Country» – kündigte Tweedy «Cousin» als Art-Pop-Album an. «Ich denke, die Platte wird die Leute umhauen», sagte er damals in einem Interview. Das war nicht übertrieben: Jedes einzelne Stück ist kunstvoll arrangiert, mal orchestral-opulent, mal sparsam – von der nachdenklichen Ballade «Ten Dead» über das schon als Single ausgekoppelte «Evicted» mit seinem düsteren Strand-Feeling bis zum spröde rockenden Titelsong «Cousin».
Der Genremix zeigt die Qualität der Band, die scheinbar mühelos einzigartige Klanggebilde schafft, in denen jeder Ton seinen Platz hat. Wie sie die stark durcharrangierten Stücke so simpel wirken lässt, das ist grosse Kunst. «Das Erstaunliche an Wilco ist, dass sie alles sein können», sagt Produzentin Le Bon. «Sie sind so vielseitig, und es gibt eine Originalität, die alles durchzieht, was sie machen, egal welches Genre, egal welches Feeling.»
Besonders deutlich wird das in «Pittsburgh». Eine anfangs fast schüchtern gezupfte Akustikgitarre wird urplötzlich von einer bombastischen Soundwand überdröhnt, die das Stück majestätisch-träge dahinschweben lässt, bevor sie wieder verschwindet und Platz lässt für Tweedys brüchige Stimme, die später wiederum von einem groovigen Jazzpart abgelöst wird.
Die eigentlichen Überraschungen hat sich die Band für den Schluss aufbewahrt. Das beschwingte Westcoast-angehauchte «Soldier Child» mit Western-Flair ist ein für Wilco ungewöhnlich konventioneller Ohrwurm, toll in Szene gesetzt mit dezentem Gitarrensolo. Als wäre das nicht genug, legt die Band mit dem Closer «Meant to be» eine unbeschwerte, lupenreine Pop-Hymne mit Disco-Beat nach. Und wenn Tweedy am Ende singt «Our love was meant to be», wieder und wieder, angetrieben von galoppierenden Drums, dann ist das – nach dem ganzen vorangegangenen Weltschmerz – Erlösung pur.
«Cousin» ist ein Erlebnis musikalischer Vielfalt und Kreativität – ein Pop-Kunstwerk, das grossen Spass macht. Definitiv ein Highlight in der Wilco-Diskografie.
The Gaslight Anthem: History Book
Nach fast einem Jahrzehnt veröffentlichen The Gaslight Anthem wieder ein neues Album. Auf «History Books» besinnt sich die US-Band um Brian Fallon alter Stärken und hat einen prominenten Gast dabei.
Vor einigen Jahren hatte Frontmann Brian Fallon angedeutet, die Geschichte von The Gaslight Anthem sei auserzählt, seine Band habe nichts mehr zu sagen. Während der mehrjährigen Bandpause trieb Fallon seine Solokarriere voran, trat aber dennoch nebenbei mit The Gaslight Anthem auf. Nun veröffentlicht er erstmals seit neun Jahren wieder neue Musik mit seiner Band, die über die Jahre einen gewissen Kultstatus erlangt hat.
«History Books» heisst das sechste Studioalbum des Quartetts aus New Brunswick/New Jersey, das mit seiner von Bruce Springsteen und Tom Petty inspirierten Mischung aus Punk, Classic Rock und Soul bekannt wurde. Mit seinem Idol und Förderer Springsteen verbindet Fallon längst eine Männerfreundschaft, die dazu führte, dass der «Boss» persönlich auf dem Titelsong des neuen Albums singt – ein wunderbares Duett.
In den zehn neuen Songs geht es um Vergänglichkeit, mentale Probleme, Beziehungen und andere menschliche Herausforderungen. «Auf diesem Album geht es um die Frage, wie wir mit dem ganzen schlimmen Zeug umgehen, das wir in der Welt sehen, und mit den schwierigen Dingen, die wir im Leben durchmachen», sagt Fallon im Begleittext zum Album. «Ich glaube die Antwort ist, dass wir alle in einem Boot sitzen, und damit ist es in gewisser Weise okay, auch wenn es alles andere als einfach ist. Die Botschaft des Albums ist Empathie.»
Musikalisch bleiben The Gaslight Anthem ihrem bewährten Stil treu. «Wir hatten kein Interesse, den Sound von The Gaslight Anthem neu zu erfinden», stellt Gitarrist und Sänger Fallon klar. Die Band, zu der Leadgitarrist Alex Rosamilia, Bassist Alex Levine und Schlagzeuger Benny Horowitz zählen, sei glücklich, «wieder zusammenzukommen und Musik zu machen, die uns am Herzen liegt». Das hört man.
Höhepunkt sind das nostalgische «Michigan, 1975», das von Jeffrey Eugenides Roman «The Virgin Suicides» («Die Selbstmord-Schwestern») inspiriert wurde, das atmosphärische «The Weatherman» und allen voran der wunderbare Titelsong mit Bruce Springsteen. Nach dem etwas enttäuschenden Album «Get Hurt» kehren The Gaslight Anthem nun mit «History Books» zu alter Form zurück.
Rick Astley: Are We There Yet
Mit Ende 50 ist Rick Astley überraschend auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Was der Popstar und Kultsänger auch anpackt, es gelingt ihm. Auf seinem neuen Album huldigt er mit Leichtigkeit dem Soul der 70er und 80er Jahre.
Rick Astley ist ein Phänomen. Während manche Popstars der 80er Jahre ihr Geld heute mit Oldie-Revivals und Reality-TV-Shows verdienen, gibt der britische Popstar Konzerte auf der ganzen Welt und trat dieses Jahr sogar gleich zweimal beim berühmten Glastonbury Festival auf. Zu verdanken hat er das einerseits dem kuriosen Kult um seinen Hit «Never Gonna Give You Up», der ihm seit Jahren ein wachsendes Publikum beschert. Andererseits veröffentlicht der 57-Jährige regelmässig gute Musik. Das gilt auch für sein neuntes Studioalbum «Are We There Yet?».
Es muss den Vergleich mit früheren Werken des Briten jedenfalls nicht scheuen. Einmal mehr präsentiert sich Rick Astley als hervorragender Sänger, der jedes Genre mühelos meistert. Der Opener «Dippin My Feet» ist mitreissender Gute-Laune-Pop. Die zwölf neuen Songs sind aber vor allem vom klassischen Soul geprägt. Der Einfluss des Stax- und Motown-Sounds, von Grössen wie Bill Withers oder Al Green, ist bei Liedern wie «Golden Hour», «Forever More» und «Maria Love» nicht zu überhören. «Never Gonna Stop» darf man durchaus als Hommage an Marvin Gayes «Mercy Mercy Me» verstehen.
Astley liefert mit dem Album zeitlose, erwachsene Musik ohne Auto-Tune oder anderen Schnickschnack, der bei ihm nur überflüssig und albern wirken würde. «Ich bin alt», sagt der 57-Jährige, der nach eigener Aussage kein Interesse an Trends hat. «Ich bin in einem Alter, wo ich mich für bestimmte Sachen interessiere. Ich schaue mir auf Instagram endlos Gitarren und Schlagzeuge an, wirklich endlos, und auf Youtube suche ich nach alter Musik, die ich früher geliebt habe – oder eigentlich vielleicht noch immer liebe.»
Der Albumtitel und das Cover, das eine Wüstenstrasse in den USA zeigt, wurden von einer grossen US-Tournee inspiriert, die Astley mit der einstigen Boygroup New Kids On The Block absolvierte. «Wir waren fünf Monate in Amerika letztes Jahr, meine Frau und ich», erzählt er im Begleittext zur Platte. Rund 35 000 Kilometer habe er mit seiner Frau, die auch seine Managerin ist, absolviert. «Wir haben Amerika aus dem Bus gesehen. Wir wollten nicht nachts fahren, weil wir was sehen wollten. Wir sassen also vorn und dachten oft «Sind wir schon da?».»
Gleichzeitig gehe es auch um seine eigene Entwicklung. «Bin ich persönlich schon da, bin ich angekommen», sagt Astley. «Wann hat man das Gefühl, dass man wirklich etwas erreicht hat? Wann hat man das Gefühl, dass man das Album gemacht hat, bei dem man sagt, es war das Album, was ich schon immer machen wollte? Ich habe das jetzt tatsächlich gemacht.» Das ist natürlich ein bisschen PR-Gerede. Für die meisten Künstler ist das neueste Album schliesslich das beste. Herausgekommen ist aber zweifelsohne ein weiteres gutes Popalbum ohne Ausfälle, das man gern mehrfach durchlaufen lässt.
Bei seinen Konzerten setzt sich Rockfan Astley gelegentlich ans Schlagzeug und schmettert «Highway To Hell» von AC/DC oder schnappt sich eine Gitarre, um «Everlong» von den Foo Fighters – mit denen er schon häufiger auf der Bühne stand – zu singen. Auf dem neuen Longplayer rockt er zwar nicht hart, zeigt aber etwa beim bluesigen «Close (Your Shoes)» oder bei der Pianoballade «Blue Sky» seinen beeindruckenden – und für manche Hörer vielleicht überraschenden – Stimmumfang. Wie schon auf den beiden vorherigen Alben spielte Astley auf «Are We There Yet?» auch die meisten Instrumente selbst.
Auf seiner kommenden Tournee wird Rick Astley seine neuen Songs auch bei vier Konzerten in Deutschland singen – in Köln, Berlin, Hamburg und Bochum. Dabei darf natürlich auch sein Kulthit «Never Gonna Give You Up» von 1987 nicht fehlen, der rund 20 Jahre nach seinem Erscheinen ein Eigenleben entwickelte und Astleys Karriere damit einen ungeahnten neuen Schub gab.
2007 ging das Phänomen des «Rickrolling» in Internet viral, bei dem der tanzende Rick plötzlich und unerwartet in unterschiedlichsten Videoclips und Memes auftauchte. «Das Grossartige ist, dass ich nichts damit zu tun hatte. Meine Plattenfirma hatte auch nichts damit zu tun, auch nicht die Leute, mit denen ich arbeite», sagt Astley, der die Entwicklung damals erstaunt beobachtete und sich glücklich darüber schätzt. «Ich habe Glück, dass ich «Never Gonna Give You Up» habe. Es ist eine tolle Visitenkarte, ein grossartiger Türöffner.»
Das «Rickrolling» ebnete ihm letztlich wohl auch den Weg nach Glastonbury. Nachdem er zuvor schon mit so unterschiedlichen Künstlern wie den Foo Fighters oder den New Kids On The Block auf der Bühne stand, performte er beim traditionsreichen englischen Festival als Solokünstler und mit der Band Blossoms, mit denen er Songs von The Smiths spielte. Was er in diesen Tagen auch anpackt, es klappt. Das gilt auch für «Are We There Yet?». Rick Astley ist angekommen.
Bligg: Tradition
2008 hat Bligg in seinem Album «0816» Hip-Hop mit Schweizer Volksmusik kombiniert und damit vereint, was zuvor als unvereinbar galt. Auf seinem neuen Solo-Album «Tradition», dem ersten seit fünf Jahren, greift er auf jenen Sound zurück, mit dem er den grossen Durchbruch schaffte. Akkordeon und Hackbrett der Streichmusik Alder bilden den vertrauten Klangteppich. Neue Wege beschreitet der 47-jährige Zürcher Musiker dagegen mit dem jungen Sänger Aaron Asteria sowie dem Song «Soldat», den er mit einem bestehenden Refrain des Songs «Nightmare» der M.S.G. McAuley Schenker Group kombiniert.
Velvet Two Stripes: No Spell for Moving Water
Für die Studioaufnahmen sind die drei St. Gallerinnen von Velvet Two Stripes, die mittlerweile mit den Grossen im Musikbusiness zusammenarbeiten, nach Portland gereist. «Stell dir vor, du fliegst in die USA, um in Portland ein Album aufzunehmen, und du hast nichts vorbereitet ausser ein paar Riffs und Songskizzen auf deinem Handy.» So beginnt Sophie Diggelmann, Sängerin der St. Galler Band Velvet Two Stripes, eine Erzählung, die genauso abenteuerlich bleibt, wie sie anfängt.
Auf Einladung des Wiener Produzenten Dominik Schmid (Rola Music) reist die 30-jährige Sängerin zusammen mit der 33-jährigen Gitarristin Sara Diggelmann und der 31-jährigen Bassistin Franca Mock im August 2022 ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Für Sightseeing bleibt keine Zeit. Täglich fahren die drei über die Interstate Bridge nach Vancouver (Washington) ins Studio, wo rohe Ideen und frische Eindrücke zu Songs verdichtet werden. «Es war zwar sehr stressig, aber dafür entstand die Musik auch wirklich vor Ort. Es steckt sehr viel Portland im neuen Album», schwärmt Sara Diggelmann. Franca Mock ergänzt: «Es war befreiend, einfach mal aufzunehmen. Das war experimentierfreudig und gleichzeitig pragmatisch.»
Tatsächlich kommt das vierte Studioalbum «No Spell for Moving Water» frisch und fast schon leichtfüssig daher, zumindest verglichen mit dem härteren und vertrackten Garage-Rock des Vorgängers «Sugar Honey Iced Tea» (2021). Es gibt zwar durchaus rotzige Garage-Nummern wie der Opener «Fuckboy», das brachiale «Boots Walkin’ All Over You», das treibende «The One» oder das schwindelerregende «Roll the Dice». Alles Nummern zum Headbangen und Haareschütteln beim Konzert.
Es gibt aber auch den hymnischen Titeltrack «No Spell for Moving Water», bei dem eine akustische Gitarre zum Einsatz kommt. Das melancholische «Idaho», welches mit Chorus-Effekt und rauchigem Gesang einen ganz persönlichen American Dream zu besingen scheint. Das eingängige «Streetlights», bei dem die Leadgitarre im Zusammenspiel mit Bass und Schlagzeug das Bild eines nächtlichen Highways evoziert. «Interstate Bridge» erzählt eine Geistergeschichte und setzt dazu passenderweise den legendären Mellotron-Sound ein, der durch «Strawberry Fields Forever» der Beatles berühmt wurde. Mit «Summer of Love» wird das Album von einer durchaus stadiontauglichen Rock-Nummer abgerundet.
Diese Vielseitigkeit ist erfreulich. Die Band hat sich das nötige Selbstvertrauen erarbeitet, Neues auszuprobieren und sich gleichzeitig treu zu bleiben. Nicht zuletzt hat es sich gelohnt, das Mixing in die Hände des mehrfachen Grammy-Gewinner Vance Powell zu geben, wodurch die Finessen der Musik gut zur Geltung kommen.
Auch wenn Velvet Two Stripes nun mit den Grossen des Musikbusiness zusammenarbeiten, fällt auf, wie viel DIY-Spirit nach wie vor in ihrer Musik steckt. In den fünfzehn Jahren ihres Bestehens konnte die Band genug Erfahrung sammeln, um die Geschicke weitgehend selbst in die Hand zu nehmen. So kamen die drei erst vor kurzem aus Italien zurück, wo sie in einem Presswerk die Vinyl abgeholt hatten. Auch, um trotz Schnelllebigkeit der Digitalisierung die persönlichen Kontakte zu pflegen.
Dass der Rock’n’Roll auch heute weitgehend noch ein männerdominiertes Genre ist, geht nicht spurlos an den Musikerinnen vorbei: «Die ersten acht Jahre waren schwierig. Heute lassen wir uns nicht mehr alles gefallen», erklärt Sophie Diggelmann. Ihre Schwester Sara ergänzt: «Wir fragen uns dann auch, ist es, weil sich die Lage für Frauen im Musikbusiness verbessert hat, oder liegt es einfach daran, dass wir bekannter sind und darum ernster genommen werden?» Franca Mock fügt hinzu: «Ich glaube, es ist sehr wichtig, Vorbilder zu haben. Wenn Mädchen und junge Frauen uns auf der Bühne sehen, so kann das hoffentlich viele dazu ermutigen, auch selbst ihren Platz einzufordern.»
San Silvan: Lass mich los
San Silvan. Das klingt nach Sonne, Meer und Strand. Wie ein Ferienort. Wie San Remo oder San Sebastian. Doch der Künstlername des Rorschacher Musikers Silvan Kuntz, der soeben seine erste Solo-EP «Lass mich los» herausgebracht hat, hat nichts mit einem Ferienort zu tun. Auch wenn er Musik durchaus als «Ort» versteht, «an den man sich beim Hören hin befördern kann». Die eigentliche Geschichte hinter dem Namen ist noch viel besser: Silvan Kuntz hat ihn der Berner Musikerin Sophie Hunger zu verdanken, welche seine EP coproduziert hat. Doch der Reihe nach.
Silvan Kuntz kennt man als Sänger der Popband Panda Lux. Seit längerer Zeit träumt er davon, ein Soloalbum zu veröffentlichen, «mit Fokus auf Gitarre und Gesang», wie er sagt. Dieser Traum ging nun in Erfüllung – und mit ihm noch ein weiterer: «Mit Sophie Hunger zusammenzuarbeiten, war crazy. Sie ist eines meiner grössten Idole.» Seit er sie als Teenager im «Musikexpress» entdeckt hat, ist er Fan von ihr.
Persönlich kennen gelernt hat er sie im Herbst 2020 an der Hochschule Luzern, wo er klassische Gitarre studierte: Silvan Kuntz war einer von fünf Teilnehmenden einer Songwriting Masterclass, die Sophie Hunger leitete.
Die Studierenden konnte ihre eigenen Songideen mitbringen. Silvan Kuntz überzeugte offenbar derart, dass es zu einer Zusammenarbeit über die Masterclass hinaus gekommen ist: Zuerst in Sophie Hungers Wahlheimat Berlin, später in ihrem neuen Studio in der Westschweiz haben die beiden sechs Songs produziert. Bei den Aufnahmen erhielt Silvan Kuntz Unterstützung von Sophie Hungers Band, dem Schlagzeuger Julian Sartorius sowie dem Keyboarder Alexis Anérilles.
Und nun zur Geschichte hinter dem Namen: «Sophie Hunger hat mich in ihren Mails immer mit San Silvan angeschrieben, ich wusste aber nie, was sie damit meinte. Sie sagte mir dann, dass ich für sie mit meinen Songs und meiner Stimme wie ein Engel wirke, der vom Himmel heruntersteigt, um die verlorenen Seelen auf der Erde zu trösten.» Silvan Kuntz war jedoch anfangs skeptisch, ob er sich wirklich San Silvan nennen möchte. «Ich will mich ja nicht heiligsprechen.» Auch seine Kollegen von Panda Lux fanden den Namen zunächst gar nicht gut. «Aber wenn man nicht allzu sehr über dessen Bedeutung nachdenkt, ist es eigentlich ein schöner Künstlername.»
Bis die EP im Kasten war, vergingen rund zwei Jahre. «Wir haben die Texte immer wieder überarbeitet und die Songstrukturen abgeändert», sagt der Rorschacher. Das lange Feilen an den Songs hat sich gelohnt. Zum einen ist es faszinierend, welche Bandbreite an Klängen Silvan Kuntz seiner akustischen Gitarre entlockt. Er deckt die ganze Palette ab – von lateinamerikanisch angehauchten Riffs («Samba») und klassischen Spieltechniken («Lass mich los») über orientalische Melodien («Brechstange») bis hin zu folkig-poppigen Akkorden, die Lagerfeuer-Feeling verbreiten («Blätter», «Nichts»).
Zum anderen überzeugen die Songs vor allem auch textlich: In jeder Songzeile steckt Poesie. Die Eröffnungsnummer «Samba» ist eigentlich ein Sommersong, dessen Stimmung aber immer wieder ins Abgründige kippt. Der Titel steht dabei sinnbildlich für die Sehnsucht nach Lebenslust: «Ich vermiss’ die Sonne und das Licht / die Hitze, die mich frisst / mich ausspuckt auf den Asphalt / im Innern ist mir noch kalt.»
Die Songs sind stark nach innen gerichtet, kommen «direkt aus dem Herz», wie Silvan Kuntz sagt. Das Herz benutzt er dabei oft als Metapher. Der Liebessong «Skalpell» etwa beschreibt das Gefühl von Nähe, Verbundenheit und Verletzlichkeit anhand einer Herzoperation: «Bitte zittere nicht mit dem Skalpell / an meinem Herz / So nah / war noch keiner / vor dir». Das gegenteilige Bild ist in «Brechstange» zu finden: Hier wünscht sich das lyrische Ich, dass ihm jemand das Herz mit einer Brechstange aufbricht – der Sänger beschreibt damit seine Unfähigkeit, sich emotional zu öffnen.
Berührend ist der Song «Nichts», den Silvan Kuntz für seinen zwei Jahre älteren Bruder Samuel geschrieben hat, der ihm sehr viel bedeutet: «Du warst immer da / wo niemand war / du warst immer wach / hast auf mich aufgepasst.» Die beiden stehen sich auch musikalisch nah: Sie spielen nicht nur zusammen bei Panda Lux, sondern auch im Gitarren-Duo Hoehn. «Wir lieben uns im Gegenwind», heisst es im Text. Silvan Kuntz will damit sagen: «Wir harmonieren nur so gut, weil wir total verschieden sind.»
OMD: Bauhaus Staircase
Mit Synthie-Pop-Hits wie «Enola Gay», «Maid Of Orleans» oder «Souvenir» stürmten Orchestral Manoevres In The Dark in den 80er und 90er Jahren die Charts und die Radiowellen. Nach über 40 Jahren Bandgeschichte hat sich das Duo seinen markanten Sound bewahrt.
Als die Schulfreunde Andy McCluskey und Paul Humphreys 1978 in einem Club in Liverpool unter dem sperrigen Namen Orchestral Manoevres In The Dark auftraten und ihre minimalistische Elektromusik spielten, taten sie das eigentlich nur zum Spass. «Es war nur eine Mutprobe», erzählt McCluskey (64) im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in London und lacht. «Wir haben uns diesen verrückten Namen gegeben, damit die Leute wussten, dass wir anders sind. Wir haben nicht versucht, cool zu sein. Es war nur ein Hobby, das versehentlich zu einer 45-jährigen Karriere wurde.»
Anfangs habe niemand die Band und ihre «merkwürdige Musik» gemocht. Doch das änderte sich. In ihrer langen Karriere veröffentlichten Orchestral Manoevres In The Dark – kurz OMD – mehr als ein Dutzend Alben, hatten Hits wie «Enola Gay», «Maid Of Orleans», «Souvenir» oder «Pandora’s Box», machten einige Besetzungen durch und trennten sich zeitweise. Seit 2006 ist das Duo McCluskey und Humphreys wieder gemeinsam aktiv. «Bauhaus Staircase» ist das vierte Studioalbum seit der Reunion und das 15. insgesamt der ikonischen Synthie-Pop-Band.
«Ich bin ein Kunstfreak, ich habe Kunst immer geliebt», sagt McCluskey auf die Frage nach der Verbindung zwischen OMD und der von Walter Gropius begründeten Bauhaus-Schule. «Eigentlich sollte ich selbst auf eine Kunstschule gehen. Doch vorher ging es mit der Band los, deshalb kam ich nie dazu. Aber ich lasse mich viel von der Kunst inspirieren. Und Bauhaus liebe ich ganz besonders, weil ich diese klare, schlichte Umsetzung von Design in funktionale Ästhetik mag.»
Der Albumtitel und der Titelsong sind ein Plädoyer für freie Kunst. «Wenn die Zeiten schwierig sind, brauchen wir Kunst umso mehr, weil sie zu uns sprechen und unsere Seele erheben kann», sagt der Sänger, der auch eine politische Komponente sieht. «Totalitäre Regime mögen keine Kunst. Sie verstehen es nicht, sie haben Angst, dass es kritisch sein könnte, und begreifen nicht, dass es kritisch ist.»
Zuletzt wiederum habe die Pandemie die Kunst bedroht. «Wir konnten nicht ins Museum gehen, ins Theater oder zu Konzerten», sagt der Frontmann, der auch für seine kuriosen, extatischen Tanzbewegungen bekannt ist, während sein Kollege Paul Humphreys statisch in die Tasten haut. «Die Regierung hat Künstler nicht unterstützt. Es gab kein Geld für Musiker, Schauspieler, Maler oder Tänzer.»
Überhaupt hat die Zeit in der Pandemie grossen Einfluss auf das Album gehabt. Mehrere Songs auf «Bauhaus Staircase» hatte McCluskey während dieser Zeit komponiert. «Ich habe sie als musikalische Umarmungen und Liebeserklärungen an Menschen geschrieben, die mir wichtig sind», erzählt der 64-Jährige. «G.E.M.», «Where We Started» und «Aphrodite’s Child» sind solche musikalischen Geschenke. McCluskey lacht. «Als das Album entstand, hab ich alle angerufen und gefragt, ob ich die Songs bitte für eine OMD-Platte zurückhaben kann.» Die Adressaten bleiben anonym. «Aber die Lieder drücken meine Liebe für sie aus.» Das erhebende «Look At You Now» klingt ein wenig nach deutschem Schlager.
«Bauhaus Staircase» ist zugleich ungewohnt politisch. Der Song «Kleptocracy» etwa kritisiert korrupte Politiker und den Einfluss des Geldes auf die Demokratie. «Ich glaube an die Demokratie. Sie ist nicht perfekt, aber ich finde, das ist die beste Gesellschaftsform», sagt McCluskey. «Neuerdings scheint es allerdings, als hätten lügende Narzissten unsere Demokratien gekapert.» Dann schimpft der Sänger wütend über Donald Trump, Boris Johnson und Wladimir Putin und entschuldigt sich anschliessend für die Kraftausdrücke. «Zu sagen, dass ich ein wenig genervt bin, wäre noch milde ausgedrückt.»
Musikalisch klingen Orchestral Manoevres In The Dark faszinierend zeitlos und stilecht. «Wir können gar nicht anders als nach OMD zu klingen», sagt McCluskey, dessen markante, versatile Stimme sich nicht verändert hat. Die elektronischen Klänge von Paul Humphreys sind ebenso unverkennbar. Das wunderbare «Don’t Go» ist das beste Beispiel dafür. «Vor 45 Jahren haben wir versehentlich einen Sound geschaffen, der heute wunderbarerweise wiedererkennbar ist. Die Kunst besteht darin, nicht wie eine schlechte Kopie von uns zu klingen.»
Nach den guten Kritiken und dem Erfolg von «The Punishment Of Luxury» aus dem Jahr 2017 hätten sie sich gut überlegt, ob sie überhaupt ein weiteres Album rausbringen sollten. «Wie Paul immer sagt: Wir machen kein neues Album, weil unsere Managerin sagt, dass wir ein neues Logo für die nächsten Tourshirts brauchen», sagt McCluskey. «Der einzige Grund, ein Album zu veröffentlichen, ist, dass man eine Sammlung von Liedern hat, die gut genug sind, damit die Leute sie hören wollen.»
Die Produktivität seit der Reunion hat sich ausgezahlt. «Wir sind nicht nur eine Nostalgie-Band», freut sich Andy McCluskey. «Die neuen Alben wurden gut aufgenommen und haben uns modern gemacht.» Das zeigt sich auch an den Konzerthallen, die für OMD zuletzt wieder grösser wurden.
Im Frühling spielen Orchestral Manoevres In The Dark im Rahmen ihrer Europa-Tournee mit mehreren Deutschland-Terminen ein Konzert in der grossen Londoner O2-Arena. Dort will Andy McCluskey auch wieder seine berühmten Tanzbewegungen zeigen. Er lacht. «Wie Paul immer sagt: Ich habe die letzten 45 Jahre überkompensiert für seine statische Performance.»
Trevor Rabin: Rio
Als Gitarrist von Yes prägte Trevor Rabin in den 80er Jahren massgeblich den Sound der britischen Progressive-Rock-Band. Dann wurde er Filmkomponist. Nun meldet sich das Multitalent mit seinem ersten Soloalbum seit 30 Jahren zurück. Und das klingt angenehm vertraut.
Filmliebhaber kennen ihn als Soundtrack-Komponisten für Blockbuster wie «Con Air» oder «Armageddon». Rockfans ist der Südafrikaner Trevor Rabin spätestens seit 1983 ein Begriff. Als Gitarrist und Songwriter der Progressive-Rock-Giganten Yes bescherte Rabin der britischen Band ihren grössten Hit: «Owner Of A Lonely Heart». Nun meldet sich der 69-Jährige überraschend mit seinem ersten Soloalbum seit 34 Jahren zurück.
Eigentlich hatte er nur vorgehabt, eine Handvoll Soundtracks zu produzieren. «Und auf einmal sind 30 Jahre vergangen und ich habe 50 Filme gemacht. Ich denke nur: Wo ist die Zeit geblieben?», sagt Rabin im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Auf einer Welttournee mit den ehemaligen Yes-Kollegen Jon Anderson und Rick Wakeman packte es ihn. «Ich dachte mir, ich muss so bald wie möglich ein Soloalbum aufnehmen.» Er verordnete sich selbst eine Filmpause und ging ins Studio in seinem Haus in Hollywood.
«Rio» heisst das Album, auf dem der Sänger und Multiinstrumentalist fast alle Instrumente selbst spielt und seine ganze musikalische Bandbreite zeigt. Die zuvor absolvierte Tournee war dafür hilfreich. «Glücklicherweise war meine Stimme nach 200 oder wie vielen Shows mit Rick und John gut im Training. Deshalb war es ein guter Zeitpunkt für die Aufnahmen», sagt Rabin. «Ich war in ziemlich guter Verfassung. Meine Finger waren gut in Form, also war die Zeit genau richtig.»
Das Album beginnt mit bombastischem Rock – in «Big Mistakes» singt Rabin über seine wilde musikalische Jugend, die ihn letztlich zur Band Rabbitt und später zu Yes führte. «Push» ist ein progressiver Siebenminüter, der anfangs stark an seine Zeit mit den britischen Prog-Ikonen erinnert. Keine Frage, Rabin hatte grösseren Einfluss auf den Sound von Yes, als die Band auf den Musiker hatte. Aber es war eine für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit von 1983 bis 1995.
In «Oklahoma», einer vielschichtigen Ballade über den Terroranschlag von 1995 in der US-Stadt, kommt der Filmkomponist durch. Wenn Rabin zu den wuchtigen Klängen eines Orchesters seine E-Gitarre spielt, hat das ein wenig Hollywood-Feeling. Das wirkt vielleicht etwas dick aufgetragen, ist aber sehr schön.
Mit «Goodbye» ist dem 69-Jährigen sogar eine Country/Bluegrass-Nummer gelungen. «Ich liebe die grossen Country-Musiker», sagt Rabin. «Und ich dachte mir: Wisst ihr was? Auf diesem Album sagt mir niemand, was ich zu tun habe, denn ich mache das ja ganz allein für mich.» Der Refrain ist hingegen eher im Classic Rock verortet. Diese Kombination der Stilrichtungen passt erstaunlich gut zusammen.
Die Mehrheit der Songs auf «Rio», das Rabin nach seiner Enkeltochter benannt hat, sind zeitlose Rocksongs mit progressivem Einschlag und der bereits erwähnten Yes-Note. Dieses Album hätte in den 1980er Jahren genauso gut funktioniert wie heute.
Dass der vielseitige Musiker nach der Reunion mit Anderson und Wakeman noch einmal unter dem Yes-Namen auftritt, ist übrigens nicht zu erwarten, zumal ausser Gitarrist Steve Howe keiner seiner alten Bandkollegen noch Yes-Mitglied ist. «Die Tür ist mit einem dicken Balken versiegelt», versichert er. Statt dessen denkt Trevor Rabin schon an sein nächstes Soloalbum und will auch auf Tournee gehen.
Max Raabe: Mir ist so nach Dir
Dem Glitzer vermeintlich goldener 20er Jahre folgen die Schrecken der Nazis. Das neue Album von Max Raabe hat musikalische Wurzeln in jenen Zeiten. Auch dazu macht sich der Sänger heute seine Gedanken.
Studiozeit heisst in der Musik oft Vereinzelung. Instrumente und Gesang werden dann separat aufgenommen, am Ende wird alles zusammengemixt. Es geht aber auch anders. Etwa beim neuen Album von Max Raabe und dem Palast Orchester. «Wir haben bei der Aufnahme alles im Tutti eingespielt», schildert der Sänger der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «Alle sassen in einem Raum und haben Musik gemacht. Das ist eigentlich die Atmosphäre, die wir bei Konzerten haben.»
Aus den Konzerten kam auch manche Inspiration für die 16 Lieder auf dem neuen Album im bekannten Stil der 1920er und 1930er Jahre. «Das Album entspricht ein bisschen dem aktuellen Tourprogramm», sagt Raabe. «Dann können die Leute das, was ihnen gerade im Konzert gefallen hat, theoretisch zu Hause noch mal hören.» Die Liveauftritte sind auch ein Prüfstein für das Repertoire. «Wenn bei den Konzerten irgendeine Nummer nicht zündet, wird sie vielleicht noch mal an eine andere Stelle gestellt, aber dann sie fliegt gnadenlos raus, egal wer sie geschrieben hat.»
Geändert wird nur wenig. «Ich liebe die Abwechslung, wenn das Orchester auch mal richtig auf den Putz hauen kann. Für ein Album verändere ich dann nicht extra die Dramaturgie, die wir auf der Bühne haben. Deswegen hat das Orchester wie auch bei unseren Konzerten eine enorme Präsenz und kann mit der Virtuosität zeigen, was es draufhat.»
Auch ein sehr bekanntes Lied hat es auf das Album geschafft. «Wir haben viele Stücke ewig nicht gespielt, etwa «Unter den Pinien von Argentinien». Wir müssen selber grinsen, wie diese Nummer nach wie vor einfach funktioniert. Das ist so eine klare, schöne Komik.» Der Song von Peter Igelhoff markiert einen Meilenstein in Raabes Karriere. Anfang der 90er Jahre gestaltete er damit eine Soloeinlage in Peter Zadecks Berliner Inszenierung «Der blaue Engel».
Nach Einspielungen neuerer Kompositionen wie etwa zuletzt bei «Wer hat hier schlechte Laune» greifen Raabe und das Palast Orchester mit dem neuen Album damit wieder auf bewährtes Material aus den 20ern und 30ern zurück. «Wir haben mit dem Palast Orchester auf der Party zu den Dreharbeiten von «Babylon Berlin» ein bisschen Rabatz gemacht und dabei «Mir ist so nach dir» gespielt, einen Titel, der auch in der Serie verwendet wurde», berichtet der Sänger. «Das Lied haben wir vor Jahren schon mal ins Programm genommen. Das war bei uns der Anlass, dass wir mal wieder ein Album mit Klassikern machen wollten.»
So haben es «Top Hat, White Tie And Tails», «Du du dudl du», «La Mer» oder «Cubanacán» ebenso in die Auswahl geschafft wie «Sie sind mir so sympathisch», der «Bilbao-Song», «Ich werde jede Nacht von Ihnen träumen» oder «Erstens küss’ ich nicht». Dass die Songs auch mit Namen wie Johannes Heesters, Bing Crosby oder Fred Astaire bekannt wurden, ficht Raabe nicht an. «Unsere Orchesterbearbeitungen sind aus dem Archiv und meistens viel älter als die Namen, die die Stücke dann später berühmter gemacht haben», erläutert er. «Viele Menschen wissen nicht, wie die Lieder eigentlich im Original geklungen haben.» Diese historische Aufführungspraxis finde er spannend.
Manche Zeile dürfte in heutigen Ohren auch befremdlich klingen. In «Wenn eine Frau Dir etwas verspricht» etwa heisst es: «wenn eine Frau ihr Wort dann mal hält». Man müsse bei den Originaltexten wissen, in welcher Zeit sie entstanden seien, sagt Raabe dazu. «Die damaligen Texterdichter hätten viele Sachen heute anders formuliert.» Und: «Das Bewusstsein für bestimmte Sätze und Formulierungen ist jetzt ein anderes als vor 20, 30 Jahren, geschweige denn vor 70.»
Mit Blick auf die Entwicklung von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus sieht Raabe Verantwortung auch individuell verankert. «Die Geschichte tut uns nicht den Gefallen, sich genauso zu wiederholen, wie sie es schon mal getan hat. Aber man muss einfach aufpassen», sagt der Musiker. «Wir haben das wertvollste System, was wir bisher hatten», sagt Raabe. «Unsere Vorfahren hätten davon geträumt, dass sie zur Wahl gehen können, dass sie demokratische Mittel einsetzen können. Man muss eben auch mitmachen, wählen gehen, gesellschaftlich denken und Verantwortung übernehmen.»
Der 60-Jährige verweist auf die Ursprünge seiner Musik. «Es hat mich immer beschäftigt, dass auf einmal nach 1933 meine favorisierten Texte und Komponisten nicht mehr mit dabei waren. Das gibt mir schon eine gewisse Aufmerksamkeit für die Zeit, in der wir leben.»
Duran Duran: Danse Macabre
Auf ihrem neuen Halloween-Album «Danse Macabre» wollen sich Duran Duran von ihrer düsteren Seite zeigen und covern dafür auch Songs von Billie Eilish und den Rolling Stones. Eine Platte zum Gruseln?
Kurz vor Halloween veröffentlichen Duran Duran ein Studioalbum, auf dem die britische Popband passend zum heidnischen Schauer-Fest eher düstere Töne anschlägt. «Wir wollten eine unterhaltsame Platte machen, aber auch ein bisschen in die dunklen Künste eintauchen», sagt Schlagzeuger Roger Taylor im Gespräch. «Ich finde, die meisten unserer Alben haben eine dunkle Seite. Wenn man genauer hinhört, dann findet man immer ein oder zwei Songs, die etwas tiefgründiger und düsterer sind.»
«Danse Macabre» ist ein Mix aus Coverversionen, brandneuen Liedern und Neuaufnahmen weniger bekannter Duran-Duran-Songs, die laut Taylor zu Halloween passten. «Wir haben uns damit auf verbotenes Terrain begeben», scherzt der 63-Jährige. «Denn die Fans wollen die Lieder so hören, wie sie ursprünglich aufgenommen wurden. Wir haben ein bisschen rebelliert und die Songs verändert oder auf eine Weise neu interpretiert, wie wir sie heute schreiben und produzieren würden.»
«Night Boat» vom 1981er Debütalbum klingt in der neuen Version etwas dramatischer. «Love Voudou» ist hingegen grooviger als das Original von 1993, das «Love Voodoo» hiess. «Secret Oktober», ursprünglich eine B-Seite der Single «Union Of The Snake», geniesst unter Duran-Fans Kultstatus. Die düstere Ballade versprüht als «Secret Oktober 31st» nun einen schaurig-schönen Charme. «Manche Leute werden sie nicht so gut finden», sagt Taylor über die neuen Versionen, «andere finden sie vielleicht sogar besser».
«Danse Macabre» entstand als Folge eines Halloween-Konzerts, das Duran Duran vor einem Jahr in Las Vegas gaben. «Wir haben uns vorm Konzert hingesetzt und eine Liste von Songs zusammengestellt, die unsere dunkle Seite beeinflusst haben», erzählt der Drummer. «Dann haben wir uns verkleidet und das Konzert gespielt.» Viele Lieder von jenem Abend in Las Vegas landeten nun auf dem Studioalbum.
Kurios ist die Verschmelzung des bandeigenen «Lonely In Your Nightmare» mit Rick James’ «Super Freak». «Das ist während der Proben entstanden», sagt Taylor. «Wir haben gejammt – und auf einmal spielt John (Taylor, Bassist) «Super Freak».» Tatsächlich hatte sich der Bassist von «Super Freak» inspirieren lassen, als er 1983 den Song für das Album «Rio» schrieb. «Es klang so gut, dass wir entschieden haben, dieses kleine Mash-up zu behalten.»
Das Album enthält drei brandneue Songs. Der Chic-Gitarrist und frühere Duran-Duran-Produzent Nile Rodgers (71) verleiht «Black Moonlight» seinen unverkennbaren Gitarrensound. «Confession In The Afterlife» ist eine verträumte Ballade, der Titelsong vermischt Rock, Funk und Sprechgesang, wie es wohl nur bei Duran Duran funktioniert.
Die beiden ehemaligen Duran-Duran-Gitarristen Andy Taylor und Warren Cuccurullo wirken ebenfalls als Gäste mit. Taylor hatte eigentlich bei der Aufnahme in die «Rock And Roll Hall Of Fame» im vergangenen Jahr mit der Band auftreten sollen, doch eine schwere Krebserkrankung verhinderte das. «Wir hätten uns so gefreut», sagt Drummer Taylor, der mit den anderen beiden Taylors nicht verwandt ist. «Also haben wir uns gesagt, das Zweitbeste wäre, wenn er auf dem Album spielt.»
Animositäten gegenüber Cuccurullo, dessen Ausstieg aus der Band 2001 nicht ganz harmonisch verlief, gebe es nicht. «Wir hatten über die Jahre etwas den Kontakt verloren, aber dieses Projekt hat uns wieder zusammengebracht», sagt Taylor. «Duran ist wie eine dysfunktionale Familie, die für diese Platte wieder zusammengekommen ist.»
Auf «Danse Macabre» machen sich die Briten sehr unterschiedliche Songs zu eigen, darunter Modernes wie «Bury A Friend» von Billie Eilish oder Klassiker wie «Ghost Town» von The Specials. Bei «Psycho Killer» (Talking Heads) wirkt Måneskin-Bassistin Victoria De Angelis mit. «Supernature» – von Disco-König Cerrone – fehlt es an Wucht. «Paint It Black» ist tanzbar und trotzdem düsterer als das Original der Rolling Stones. Nick Rhodes’ Synthesizer klingen nach trashigem 70er-Jahre-Gruselfilm und Simon Le Bon singt mit viel Theatralik.
Überhaupt ist der 64 Jahre alte Sänger stimmlich in bestechender Form. «Er arbeitet viel dafür. Er behandelt seine Stimme wie ein Opernsänger», sagt Taylor über seinen Frontmann. «Es ist wirklich beachtlich, dass er in seinem Alter noch diese Stimme hat. Denn viele Sänger haben später Probleme, die Stimme leidet oft. Aber Simon wird offenbar stärker und stärker. Wir haben wirklich Glück.»
Halloween-Platte hin oder her, «Danse Macabre» ist in erster Linie ein Popalbum und hat den vertrauten Duran-Duran-Sound. Nicht jeder Song ist ein Volltreffer und das Gesamtwerk wirkt seltsam chaotisch. Aber ein Album zum Gruseln ist «Danse Macabre» keinesfalls.
Dass sich Duran Duran nach dem Halloween-Projekt als nächstes an ein Weihnachtsalbum wagen, ist übrigens nicht zu erwarten. «Es ist etwas, dass wir immer gemieden haben», sagt Roger Taylor, der mit seinen Kollegen 1984 bei «Do They Know It’s Christmas?» (Band Aid) mitsang. «Schon in den frühen 80ern fanden wir Weihnachtsalben irgendwie kitschig – und deshalb haben wir uns davon immer ferngehalten.» (dpa)
Ed Sheeran: Autumn Variations
Seine Musik bleibt auch auf dem neuen Album «Autumn Variations» vorhersehbar. In den Lyrics stösst man auf Klischees und Gemeinplätze – und auf Liebe aus einem Plasiksack. Das Problem von Popsongs wie jenen von Ed Sheeran ist der übergebildete Zugriff auf die unterkomplexe Massenkultur.
Ed Sheeran, der erfolgreichste Musiker Grossbritanniens, musste sich kürzlich vor Gericht gegen einen Plagiatsvorwurf verantworten. Zu seiner Verteidigung schrummte er den Geschworenen auf der Gitarre vor, um zu demonstrieren, dass die simple Akkordfolge seines Songs nicht bloss bei Marvin Gaye, sondern schon zuvor in anderen Songs verwendet wurde. Die Harmoniefolge mit den drei Dur-Akkorden und einem Moll-Akkord ist gleichsam popkulturelles Allgemeingut, das sah schliesslich auch die Jury ein.
Ed Sheerans Musik speist sich aus der Variation des Immergleichen. Dies scheint nun auch der Titel seines neuen Albums «Autumn Variations» zu bekräftigen. Und tatsächlich ist doch bereits der Refrain des erstens Stücks «Magical» von der gleichen umstrittenen Akkordfolge (Es-Dur, G-Moll, As-Dur, B-Dur) unterlegt, wenn auch in behäbigerem Tempo. Diese freche Nonchalance würde Ed Sheerans Fans bestimmt gefallen. Doch vermutlich achten sich die wenigsten von ihnen bewusst auf die musikalischen Strukturen.
Der 32-jährige Sheeran punktet bei der Hörerschaft in seiner Rolle als strubbeliger, bleicher Durchschnittskerl, als einer von ihnen. Sein Alleinstellungsmerkmal ist die unverschämte Direktheit, mit der er das Bekannte, Banale und Offensichtliche aufgiesst. Das gilt auch für seine Songtexte, die wirken, als wären sie spontan auf einen Bierdeckel gekritzelt und nicht noch einmal durchgelesen worden. «I overthink», also etwa «ich denke zu viel nach», so beginnt der Text des Stücks «Plastic Bag», der jedoch in seiner formlosigen Geschwätzigkeit beim besten Willen nicht als übermässig durchdacht gelten kann.
Angedacht ist darin indessen so manches. In achtlosen Phrasen wird vage angedeutet, dass da jemand allerlei zu klagen hat: über Schlafprobleme, eine Sinnkrise, ein metaphorisches «Bluten», das kein Doktor stoppen kann, einen ungelieben Job, und Freunde, die nicht wiedergesehen werden. Allein und mit «meinen Dämonen», die «schwer auf dem Herzen lasten», wie es in einem von ungezählten schiefen Bildern heisst, das in den Refrain überleitet, muss einer ja fast verzagen.
Aber zum Glück kommt bald das Wochenende! Und so nimmt Sheeran seine Hörer mit in einen Refrain, der ein wenig an seine Party-Songs als Mittzwanziger erinnert, als er noch heiter und unbekümmert das Saufen mit Kumpels und Anbandeln mit attraktiven Frauen besang. Auch hier kommen nun «saturday night», Shotgläser und Stroboskoplichter ins Spiel, während die folkige Gitarrenbegleitung von einem vorwärtstreibenden Disco-Beat abgelöst wird.
Anders als vor Sheerans Eintritt in die Spätadoleszenz besteht die Grundierung das Partysamstags nun aber in der düsteren Stimmung der restlichen Wochentage. Der zweite Refrain wird konkreter: Der Freund ist tot, der Schmerz hält an. Das kann autobiografisch gelesen werden, nachdem Sheeran auf dem letzten Album «- (Subtract)» die Trauer um seinen besten Freund thematisiert hatte. «Oh, why the fuck am I still here breathin’?», Warum verdammt nochmal lebe ich denn noch? Ja, so geht Trauer. Aber der nächste Refrain kommt sogleich, und mit ihm der nächste Samstag, das nächste Stroboskop, der nächste Shot. So geht Pop.
Die Schlusszeile des Refrains ist indessen ein überraschender Vers, der im Gegensatz zum Rest lyrische Qualitäten hat. Die Party, den Shot, Das Stroboskop, alles das nehme ich, singt Sheeran, «if you’re givin’ out love from a plastic bag». Statt schwammiger Bilder für wohlfeile Gemeinplätze haben wir hier das Gegenteil: ein starkes Bild, das sich einer festlegender Deutung entzieht.
Wer ist das Du, das endlich auftaucht, an der Party, im Suff, auf der Flucht vor den Dämonen? Wer teilt denn da Liebe aus der Plastiktüte aus – eine Geliebte, ein Gott, oder etwa ein Drogendealer? Ausgerechnet aus einer profanen Plastiktüte emaniert Beglückendes. Allerdings ist der Satz mit einem einschränkenden «wenn» eingeleitet: Die Leiter von den Dämonen durch die Laster empor zur erlösenden Liebe kann auch umstürzen. Ein Konditional, dass von der Fans in der Bar jedoch leicht überhört werden könnte. Aber möglicherweise sind wir hier längst «overthinking».
The Streets: The Darker the Shadow the Brighter the Light
Es machte «Boom». 2002 erschien «Original Pirate Material» von The Streets. Wir sassen mit Mike Skinner im Schlafzimmer seines Vorstadtblocks und hörten zu, wie er Gras in ein Papier bröselte und auch sonst durchs Leben stolperte. Sein Rap ist immer leicht neben dem Takt, aber er ist ein grandioser Geschichtenerzähler. Die Storys eines sympathischen Durchschnittsbriten, der immer mal wieder gross träumt und dann vom Leben unterschiedlich sanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird.
Seit dem letzten Album sind nun mittlerweile zwölf Jahre vergangen. Skinner hatte die Streets eigentlich an den Nagel gehängt, ist stattdessen als DJ herumgetingelt, hat eine Familie gegründet und bröselte wohl auch weiterhin etwas Hasch zu Zauberzigaretten – einfach in etwas grösseren und schöneren Wohnungen. Und: Einen Film hat er gemacht. «The Darker the Shadow the Brighter the Light» heisst er (wie das Album) und ist ein Krimi, der im Club-Umfeld spielt.
Skinner hat dabei nicht nur Regie geführt, den Soundtrack gemacht und die Finanzierung gesichert, er hat auch selbst mitgespielt. Und glaubt man jenen, die den Film gesehen haben, ist er damit auf höchst sympathische Art gescheitert. Einen Verleih hat er jedenfalls nicht gefunden, und so droht der Film nach ein paar Spezialvorführungen im digitalen Niemandsland zu versickern. Die Kritiken waren verhalten bis na ja.
Deutlich besser ist da sicher das Album. Irgendwie zwischen relaxt und fiebrig berichtet er aus seinem Leben. Und ist immer noch ein fantastischer Erzähler. «Walk of Shame» wird eigentlich der morgendliche Heimweg genannt, wenn man die Nacht bei einem One-Night-Stand verbracht hat. Die Kleidung noch voll Clubgestank, die Haare zerzaust. So will man niemanden treffen.
Bei Skinner ist der «Walk of Shame» der tägliche Weg zur Arbeit. Und mit ihm sind wir alle auf diesem Weg. Das Gesicht zerknautscht. Nicht von zu langer und zu abenteuerlicher Party, sondern vom Alltagstrott und dem Hadern damit, dass da nicht mehr Party ist, sondern eben Arbeit.
Und wenn Skinner auf «Troubled Waters», dem besten Track des Albums, ein richtiges Brett für Clubnächte baut, dann klingt das anders als noch 2002. Dunkler, bedrohlicher. Die Party ist nicht mehr der unbeschwerte juvenile Eskapismus, sondern irgendwo zwischen einer Sehnsucht nach Partynächten und einem Willen nach Weltflucht: «Outside of the nightclub, I don’t know what to do/Inside of the nightclub, it’s too dark to care», schliesst er das Lied. Immer noch wimmelt es auf der Platte von solch schönen Sätzen. Grossartig ist, wenn Mike Skinner über Gott sinniert. «They’re all atheists here/But which god is it that they don’t believe in?», sagt er. Natürlich, alle glauben nicht mehr an Gott, aber an welchen Gott glauben sie nicht?
Es macht 2023 nicht mehr «Boom», wenn man The Streets hört. Andere sind heute konsequenter und radikaler. Aber kaum einer hat so eine schöne Mischung aus Geist und Humor. Very british.