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Trinkt sie Blut oder Hafermilch? Ein verblüffendes Treffen mit dem gefeierten Performance-Superstar Marina Abramović

Die Kunstwelt trifft sich in Zürich, die weltweit bewunderte Marina Abramović ist hier. Das Kunsthaus zeigt die grösste Ausstellung, die es hierzulande mit der serbischen Radikal-Performerin je gegeben hat. Beim Treffen am Rande spricht sie über Rasiermesser, Radikalität und Bullshit.

Wird sie nackt vor uns sitzen? Sollen wir uns ausziehen während des Interviews mit Marina Abramović? Alles schon passiert. Für die Ausstellung im Kunsthaus Zürich waren Menschen gesucht worden, die sich gegen Geld für die Performances des Superstars ihrer Kleider entledigen, ein nationaler Aufreger.

Doch in der Lobby des Mandarin Oriental Hotel am Zürcher Paradeplatz, 5 Sterne, bleibt alles an seinem Platz. Geheimnisse werden aber sehr wohl gelüftet. Die 77-jährige Serbin, verschrien als Satanistin oder Kindsmörderin, entpuppt sich im Gespräch als Kraftwerk, konzentriert, offenherzig, humorvoll. Klare Augen, die straffe Gesichtshaut einer 50-Jährigen, nachtschwarzes langes Haar. Sie schüttet Unmengen Hafermilch in ihren Kaffee, stöhnt herzlich über die lange Liste mit den Presseterminen, die sie noch abarbeiten soll, rühmt überschwänglich die Schokolade, die man ihr mitgebracht hat – und sagt dann: «Let’s start!»

Wir hörten, Sie mögen belgische Schokolade. Geben Sie auch Schweizer Schokolade eine Chance?

Marina Abramović:Ein fantastisches Design! Hier steht, sie hat einen hohen Kakao-Anteil. Das ist also die gesunde Schokolade.

Gesund? Ist Schokolade das Geheimnis Ihres jugendlichen Aussehens?

Wissen Sie, ich rauche nicht, nehme keine Drogen, trinke keinen Alkohol, nicht mal ein Glas Wein. Schokolade ist mein einziges Laster. Darüber hinaus versuche ich so gesund wie möglich zu leben, mache jeden Morgen meine Übungen, esse nicht später als um 16 Uhr, und ich schlafe mindestens acht Stunden.

Nun, Schlaf alleine hilft wohl nicht. Die Künstlerin bietet ihrer Fangemeinde neuerdings auch die «Marina Abramović Longevity Methode» an, Kräutertropfen und natürliche Booster für «ein langes Leben» und «geistige Klarheit». Die Wellnessangebote entwickelt sie in Zusammenarbeit mit einer kasachischen VIP-Ärztin im österreichischen Fuschl.

Sie wollen 103 Jahre alt werden, wieso eigentlich?

Meine Grossmutter wurde 103. Bevor sie starb, bat sie ihren ältesten Sohn, ihr einen Kamm zu bringen. Sie kämmte sich die Haare, verschränkte die Arme und starb. Ist es nicht wundervoll, so frei von Wut und Angst zu sterben? Weisheit ist etwas, das mit dem Alter kommt. 70 Jahre ist da noch jung, und ich möchte niemals mehr in Ihrem Alter sein, wie alt sind Sie?

Ich bin 30.

Nein, ich möchte niemals mehr so jung sein. Ich litt dermassen in dieser Zeit. Es fehlt einem an Erfahrung. Man wird durch Chaos und Elend gehen im Leben. Man wird Fehler machen. Diese Erfahrungen führen dazu, das Leben in all seiner Bedeutung zu verstehen. Doch dann ist es eine Freude, gesund alt zu werden. Heute bin ich zehn Mal zufriedener als damals.

Damals war die junge Marina Abramović aus Belgrad unter Tito berüchtigt dafür, ohne Kleider zu performen. Ein Skandal! «Wieso nicht nackt? Wir werden doch alle nackt geboren!», ist ihre Antwort auf die bis heute immer wiederkehrende Frage, ob Nacktheit ihr Fetisch sei. Sie harrte damals stundenlang mit 500 Ratten aus, peitschte sich und ritzte sich den roten kommunistischen Stern auf den Bauch: Um die Gewalterfahrungen ihrer Jugend aus Körper und Geist zu bannen, ging sie an die Grenzen von Leben und Tod.

Durch diese prekäre Gasse muss man gehen, um im Kunsthaus ins Universum der Abramovic einzudringen.
Bild: Keystone

Gewalt ist in Ihrer Kunst ein zentrales Thema …

Ist sie das? Ich finde nicht. Mir geht es um die Angst der Menschen vor Schmerz. In meinen Performances zeige ich, wie man den Mut findet, sich dem Schmerz zu stellen. Ich bin der Spiegel des Publikums. Wenn es mir gelingt, den Schmerz zu überwinden, dann wird es auch den Besuchern gelingen.

Gelingen soll ihr auch, uns dahin zu bringen, Ängste zu überwinden. Als ein niederländischer Journalist einmal bekannte, dass er sich bei ihren Performances unwohl fühle, da er Nacktheit schlecht ertrüge, schlug sie ihm vor, das Gespräch versuchsweise ohne Kleider zu führen. Es soll, so die spätere Legende, für den Mann ein befreiendes Erlebnis gewesen sein.

Was macht Sie so sicher, dass das, was sie tun, Kunst ist?

Wenn ein Student zu mir kommt und sagt, ich möchte Künstler werden, schicke ich ihn nach Hause. Man will nicht Künstler werden. Entweder man ist es oder man ist es nicht.

Und wann ist man es?

Wenn man morgens aufwacht und Ideen hat. Wenn es diese Dringlichkeit gibt, die man nicht hinterfragt. Man hinterfragt nicht, dass man atmet. Wenn man nicht atmet, stirbt man. Wenn man diese Dringlichkeit spürt, ist man Künstler. Ein guter Künstler muss vieles opfern. Doch selbst das ist keine Garantie, ein «Wow-Artist» zu sein.

Sagen Sie uns, wer ist ein solcher «Wow-Artist»?

Jedes Jahrhundert hat ein oder zwei davon: Van Gogh. Mark Rothko. Malewitsch. Frieda Kahlo. Marcel Duchamp. Yves Klein. Louise Bourgeois.

Interessiert Sie auch Schweizer Kunst?

Schweizer Kunst?

Pipilotti Rist zum Beispiel …

Pipilotti Rist ist eine gute Künstlerin, aber kein «Wow-Artist». Sie ist nicht Marcel Duchamp.

Marina Abramović,Der Held(2001; Video). Die Arbeit entstand kurz nach dem Tod ihres Vaters, eines jugoslawischen Partisanen während des Zweiten Weltkriegs.
Bild: Keystone

Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich zeigt neue Arbeiten sowie Performances aus den letzten 55 Schaffensjahren. Wie ist es für Sie, zur Zuschauerin ihres eigenen Werks zu werden?

Mich interessiert die Vergangenheit nicht, ich blicke nie zurück. Ich lebe in der Zukunft.

Und die schreckt Sie nicht, die Zukunft? Wir leben in schwierigen Zeiten …

Jede Zeit ist schwierig! Sehen Sie die Kriege, den Hunger, die Seuchen, welche die Menschheit in den letzten Jahrhunderten überstanden haben. Wenn ich das «Big Picture» betrachte, frage ich mich, wie es sein kann, dass wir nie lernen, einander zu verzeihen? Wie ist es möglich, dass wir uns weiterhin umbringen?

Haben Sie mit Ihrem spirituellen Hintergrund darauf eine Antwort?

Meine Antwort ist die Performance am Glastonbury-Festival diesen Sommer. Veränderung beginnt immer zuerst bei uns selbst. Wenn es uns gelingt, uns selbst zu ändern, können wir vielleicht auch andere ändern.

Am 30. Juli waren am TV eine Million Zuschauer und im englischen Sommerset 270’000 Menschen Zeugen von Abramović‘ Auftritt: Gekleidet als Friedenssymbol, designt vom ehemaligen Kreativdirektor von Burberry, brachte sie das Publikum an einem derweltweit grössten Open-Air-Festivalsdazu, während sieben Minuten zu schweigen. Ihre «Seven Minutes of Collective Silence» verstand sie als Protest gegen Krieg und Gewalt.

Sie kennen den Vorwurf, eine Esoterikerin zu sein?

Wenn es nur das wäre! Man behauptet, ich sei Satanistin oder tränke Blut. Kennen sie die Verschwörungstheorie, die 2020 rund um die Wahl von Donald Trump über mich und Hillary Clinton verbreitet wurde? Über meine Person wird so viel Bullshit geschrieben.

Radikalisiert diese Aggression Ihre Arbeit?

Sie kümmert mich nicht.

Ihr Telefon erinnert an den nächsten Termin, die zugestandenen 15 Minuten sind um. Abramović packt sorgfältig die Schokolade in ihre kleine, teuer aussehende Handtasche. Sie ist ein Mode-Junkie, das gibt sie gerne zu. Kein Widerspruch, dass Sie sich in ihrem Schaffen auf die Ideale des Buddhismus und die Kultur der nomadischen Aborigines bezieht.

Bitte stellen Sie noch eine letzte Frage.

Nun, welche Frage wollten Sie schon immer beantworten?

(Überlegt lange.)Are you happy? Das ist die wichtigste Frage. Und ich bin glücklich. Und eines noch: Verlieren Sie in Ihrem Leben keine Zeit!

Sie steht auf, verschwindet, und jetzt wird auch die Dame am Nebentisch endlich ihre Frage los: «War das nicht diese bekannte Künstlerin?»

Detox-Kur mit Marina Abramović: Die Retrospektive am Kunsthaus Zürich verspricht Erlösung

Beim Betreten der Ausstellung wird der Besucher selbst Teil eines ikonischen Kunstwerks.
Bild: Til Buergy / EPA

Um Marina Abramovićs Kunst-Ereignis zu erleben, muss man an den zwei nackten Körpern vorbei. Wie zwei Säulen stehen sie sich im Türrahmen so eng gegenüber, dass man sie berühren wird. Natürlich ist das unangenehm. Aber mit dem Eintreten wird das Publikum Teil eines ikonischen Kunstwerks.

Die Künstlerin, heute alterslose 77 Jahre, stand so selbst 1977 im Türrahmen einer Galerie in Bologna. Ihr Gegenüber ihr einstiger Schaffens- und Lebenspartner Ulay. So eng wie damals ist der Durchgang in Zürich nicht mehr, und es gibt einen zweiten Einlass ohne Wächter, der zudem rollstuhlgängig ist. «Lassen Sie uns über Political Correctness sprechen», fordert die Künstlerin am Presseanlass im Kunsthaus, dem so viele Medienleute gefolgt sind wie seit langem nicht mehr.

Keine ihrer Arbeiten aus diesen frühen Jahren wäre heute noch möglich. Rechtliches gibt es zu beachten, es geht um Versicherungen und Massnahmen zur Inklusion. Marina Abramović zuckt die Schultern, die ihr Jackett breit polstern: «Ich musste mich entscheiden. Entweder ich werde diese Performances nie mehr zeigen. Oder biete einen zweiten Eingang an und lasse mich auf das ein, was ich einen gesunden Kompromiss nenne.»

Auf dem Furkapass performte Marina Abramović vor sechs Personen

In der Arbeit «Luminosity» sass sie beispielsweise sechs Stunden hoch über dem Boden auf einem Fahrradsattel, kein Griff, keine Stütze für die Füsse. In Zürich darf die Performance nur gerade noch dreissig Minuten dauern. Aufgeführt wird sie von einem der 24 professionell trainierten Performer und Performerinnen, die demCastingaufruf im Frühjahrgefolgt sind.

Auch dreissig Minuten sind ein Kraftakt. Man sieht den Performer atmen, und atmet mit. In dieser Show ist man niemals nur Zuschauerin. Die Performance von Marina Abramović braucht Publikum. Dass es kommen wird, wenn seine Königin ruft, steht ausser Frage.

Zu sehen bekommt es Fundstücke, die speziell für die Schweizer Ausstellung gehoben wurden. 1984 besuchte die Serbin auf Einladung von Kurator Marc Hostettler das Hotel Furkablick. An einem langen Tisch sass sie Ulay weitere Stunden gegenüber, ohne je den Blick abzuwenden. Diesmal trugen sie Kleider, trotzdem: «Es war eisig», erinnert sich Abramović in Zürich. Auf dem Furkapass sahen ihnen sechs Personen zu. Ganz ähnlich sass sie 26 Jahre später im Museum of Modern Art (MoMA) in ihrer Wahlheimat New York während 716 Stunden und 30 Minuten Fremden gegenüber. «The Artist is present» gehört zu ihren bekanntesten Performances.

Kathartische Erfahrung im Kunsthaus

Kuratorin Mirjam Varadinis ordnet Werke aus 55 Arbeitsjahren zu einem kathartischen Rundgang an. Fotografien, Bilder und Requisiten dokumentieren, wie Marina Abramović Grenzen überwindet. Die körperlichen und die psychischen. Sie ächzt, schreit, blutet, liebt und verlässt. Sie kämt sich bis zur Erschöpfung die Haare («Art must be beautiful / Artist must be beautiful» 1977) und schrubbt Fleisch von Knochen («Balkan Baroque», 1997).

An dieser Stelle findet der Rundgang seinen logischen dramaturgischen Höhepunkt. Wer es bis hierher geschafft hat, darf aufatmen.

Performances, die sie an die Schwelle zum Tod bringen, macht Marina Abramović heute nicht mehr. Mit 23 wäre sie für die Kunst gestorben, nun sei sie weiser. Ihr Alterswissen möchte sie weitergeben und dem Zürcher Publikum Kontemplation beibringen. Dafür gibt es Übungen. Man kann Reiskörner zählen oder sich auf Kristalle legen. Für das Kunsthaus hat sie die «Decompression Chamber» eingerichtet. In Schliessfächern hinterlegt man Handy und Uhr, es gibt Kopfhörer, die das Alltagsrauschen ausblenden und Liegestühle für die Rast vom Rummel um den Kunststar. Detox nach der Abramović-Methode.