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Mehr Blumenwiesen oder Weizenfelder? Die Politik streitet über die Landwirtschaft – und kratzt am Gegenvorschlag zur Trinkwasser-Initiative 

Bäuerinnen und Bauern sollen mehr Ackerfläche für die Förderung der Biodiversität einsetzen. Das hat der Bundesrat beschlossen – und damit Widerstand geweckt. Nun ist das Parlament dran, den Entscheid auszuhebeln.

Die Bäuerinnen und Bauern müssten mehr produzieren, der Versorgungsgrad müsse erhöht werden, sagen die einen. Die anderen warnen: Die heutige Landwirtschaft mit ihrem Pestizid- und Düngereinsatz schade der Umwelt, der Biodiversität – und gefährde dadurch die Versorgungssicherheit auf lange Sicht.

Der Ukraine-Krieg hat diesen Streit angefacht; nun entzündet er sich an einem Entscheid des Bundesrats neu. Er hat im April beschlossen, dass künftig auf mindestens 3,5 Prozent der Ackerfläche spezifische Biodiversitätsförderflächen angelegt werden müssen. Das sind beispielsweise extensiv genutzte Wiesen, die nicht gedüngt werden. Gleichzeitig setzte der Bundesrat das Ziel, die Nährstoffverluste in der Landwirtschaft bis 2030 um mindestens 20 Prozent zu reduzieren.

Der Schweizer Bauernverband ging daraufhin auf die Barrikaden, und auch das Parlament wurde aktiv. Jetzt stehen die beiden Beschlüsse auf der Kippe. Der Ständerat hat zwei Motionen von Beat Rieder (Mitte/VS) und Johanna Gapany (FDP/FR) verabschiedet, welche die Entscheide rückgängig machen wollen. Nun kommt es auf den Nationalrat an, der in der Wintersession darüber berät. Die vorberatende Wirtschaftskommission beugte sich diese Woche darüber – und empfahl ihrem Rat, die zwei Motionen anzunehmen.

«Ohrfeige für 1,27 Millionen Stimmberechtigte»

Das ist auch deshalb brisant, weil die beiden Massnahmen im Zusammenhang mit der Trinkwasser- und der Pestizid-Initiative zu Stande kamen. Das Parlament hatte zu den beiden Volksbegehren eine Art inoffiziellen Gegenvorschlag geschaffen, um die Belastung durch Pestizide und Überdüngung zu senken. Die beiden Initiativen wurden schliesslich bachab geschickt.

Um den inoffiziellen Gegenvorschlag umzusetzen, beschloss der Bundesrat ein Bündel an Massnahmen. Darunter sind auch jene zwei, welche nun in Frage gestellt werden. Bei den Initianten sorgt das für Ärger.

Die Urheberin der Trinkwasser-Initiative, Franziska Herren, sagt: «Ich bin sehr beunruhigt und auch fassungslos über die Entscheidungen der Wirtschaftskommission des Nationalrats.» Sie spricht von einer «Ohrfeige» für jene 1,27 Millionen Stimmberechtigte, welche der Trinkwasser-Initiative zugestimmt haben, «sowie auch für diejenigen, die auf den Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament vertraut haben». Es sei verantwortungslos, den Anteil von 3,5 Prozent an Biodiversitätsflächen zu streichen, sagt sie: «Die Biodiversität ist eine unverzichtbare Grundlage für die Lebensmittelproduktion.»

Initiantin der Trinkwasser-Initiative: Franziska Herren.
Bild: Alessandro Della Valle/Keystone

Herren ist überzeugt, dass es einen Weg gibt, den Selbstversorgungsgrad zu stärken und gleichzeitig die Umwelt- und Klimaziele zu erreichen: Die Lebensmittelproduktion und die Ernährung müssten sich ändern. «Im Klartext heisst das: weniger Fleisch, dafür mehr pflanzliche Nahrungsmittel.» Aus ihrer Sicht wird zu viel Ackerfläche für die Produktion von Tierfutter genutzt. «Wir sollten mehr Nahrungsmittel für die menschliche Ernährung anbauen, beispielsweise Rohstoffe für die boomenden Fleischersatzprodukte.»

In die gleiche Kerbe schlägt Edward Mitchell. Der Biologieprofessor war Mitglied des Komitees der Anti-Pestizid-Initiative. Für ihn zeigen die jüngsten Entscheide, dass die Kommission die aktuelle Agrarpolitik nicht überdenken will. Und, schlimmer noch, so Mitchell: Sie nutze die aktuelle Krise «als Vorwand, um die bestehenden zaghaften und ungenügenden Massnahmen in Frage zu stellen». Auch er plädiert für eine Reduktion des Fleischkonsums.

«Sie zäumen die Pferde von hinten auf»

Ganz anders sieht der Schweizer Bauernverband die ganze Sache. Die vom Parlament als Gegenvorschlag vorgesehenen Massnahmen seien «in keinster Art und Weise in Frage gestellt». Der Bundesrat sei mit seinen Entscheiden weiter gegangen, als vom Parlament gewollt.

«Die beiden Motionen korrigieren lediglich zwei Punkte, mit denen die Regierung das Fuder überladen und auch den Parlamentswillen missachtet hat», argumentiert Direktor Martin Rufer. Der Ständerat habe beispielsweise das Reduktionsziel von 20 Prozent explizit aus dem Gesetz gestrichen und den Bundesrat beauftragt, mit der Branche ein realistisches Ziel zu definieren. Dass der Bundesrat sich dennoch für 20 Prozent entschied, ist für den Bauernverband unverständlich.

Rufer betont weiter, bereits heute dienten 19 Prozent der Landwirtschaftsfläche der Biodiversitätsförderung. Das Argument, dass mit weniger Fleischproduktion mehr Anbaufläche zur Verfügung stünde, kontert er: «Die Kritiker zäumen die Pferde gerne von hinten auf. Solange der Fleischkonsum nicht zurückgeht, müssen wir auch nicht an der Landwirtschaft rumschrauben.» Werde in der Schweiz weniger produziert, müsse man mehr importieren.

Die neue Mindestvorgabe von 3,5 Prozent Biodiversitätsförderflächen hätte nur geringe Auswirkungen auf die Produktion, sagt der Bundesrat. Es gehe um rund 9400 Hektaren Ackerfläche. Auf rund 4300 davon könnte weiter Getreide angebaut werden, wenn auch nur «in weiter Reihe», also weniger dicht als üblich, damit Tiere und Pflanzen mehr Platz haben. Der Bundesrat schreibt: «Da davon ausgegangen werden kann, dass für diese Biodiversitätsförderflächen nicht die ertragreichsten Flächen verwendet oder diese anstelle von Kunstwiesen angelegt werden, dürften die Auswirkungen auf die Produktion insgesamt gering sein.»

SVP-Nationalrat Marcel Dettling.
Bild: Valentin Hehli

Unterstützung erhält der Bauernverband von SVP-Nationalrat Marcel Dettling. «Der Bundesrat geht völlig in die falsche Richtung», sagt er. «Wir haben acht Milliarden Menschen auf der Welt, bald neun Millionen in der Schweiz. Wir müssen mehr produzieren, nicht weniger. Das sagt auch die UNO.» Auf den 3,5 Prozent Ackerflächen, welche der Bundesrat für die Biodiversitätsflächen opfern wolle, lasse sich Brotgetreide für eine Million Menschen produzieren, argumentiert der Schwyzer Landwirt.

Die SVP arbeitet an einer Initiative, die einen Netto-Selbstversorgungsgrad von 60 Prozent fordert. Ob sie tatsächlich lanciert wird, hängt auch davon ab, wie der Nationalrat im Dezember entscheidet. Es dürfte eng werden: Die vorberatende Kommission fasste ihre Beschlüsse knapp – jene zur Streichung der 3,5-Prozent-Vorschrift mit 13 zu zwölf Stimmen.