Der Westen darf jetzt nicht nachlassen mit seiner Hilfe an die Ukraine
Wolodimir Selenski wirft Henry Kissinger vor, dass er Wladimir Putin besänftigten wolle – was mit dem Appeasement vergleichbar sei, das der damalige britische Premierminister Neville Chamberlain gegenüber Adolf Hitler versuchte.
Kissinger, Grand Old Man der Diplomatie, empfahl der Ukraine am WEF in Davos, sie solle Territorium an Russland abtreten, damit ein Friedensschluss möglich werde.
Ist das Defätismus? Nein. Kissingers Einschätzung ist leider realistisch. Und sie liegt sogar im Einklang mit Äusserungen Selenskis. Ende März erklärte der ukrainische Präsident, eine vollständige ukrainische Rückeroberung des Donezbeckens würde den Dritten Weltkrieg auslösen. Vor einer Woche sagte Selenski: Den Russen gewaltsam die Halbinsel Krim abzuringen, würde Hunderttausende ukrainischer Menschenleben kosten.
Kanzler Scholz eilt es nicht mit der Lieferung von Waffen
Selenski weiss, dass der Friede mit Moskau die Preisgabe von Territorium bedeuten könnte, das rechtmässig zum ukrainischen Staat gehört. Die unwirsche Reaktion auf Kissinger hat zwei Gründe: Es ist für die ukrainische Regierung wenig hilfreich, wenn westliche Politiker von Konzessionen gegenüber Putin sprechen, bevor sich dieser überhaupt auf Verhandlungen eingelassen hat. Vor Verhandlungen stellen die beiden beteiligten Seiten hohe Forderungen, um die Gegenpartei zu Konzessionen zu bewegen.
Zweitens stellt man in Kiew mit Sorge fest: Es gibt Anzeichen dafür, dass die Unterstützung des Westens für den Kampf gegen den russischen Aggressor abnimmt. Die EU tut sich schwer, ein sechstes Sanktionspaket gegen Russland zu schnüren – was vor allem an der Verweigerung des ungarischen Premiers Viktor Orbán liegt. Der Ukraine beizustehen, kostet viel Geld, während die Energiepreise und die Inflation in Europa steigen. Geeignete Plätze zu finden für die Millionen ukrainischer Flüchtlinge, wird in einigen Ländern schwierig. Und weil Putin die Ausfuhr von ukrainischem Weizen blockiert, droht Nordafrika eine Hungersnot.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz legt derweil bei der Lieferung von Waffen an Kiew keine Eile an den Tag. Scholz sagt, dass Putin den Krieg nicht gewinnen dürfe; zugleich scheint der Kanzler in der Angst gefangen, dass der Konflikt eskalieren könnte.
Russland ganz aus der Ukraine zu drängen, ist nicht realistisch
Ende Februar reagierten die Länder der EU, die Nato, die Vereinigten Staaten mit grosser Geschlossenheit auf Putins Kriegsbefehl. Sie taten das, weil der Angriff des totalitär regierten Russland auf ein friedliches, demokratisches Nachbarland mit nichts zu rechtfertigen war. Daran hat sich nichts geändert. Es liegt im Interesse des Westens, dass Putins imperialer Feldzug gestoppt wird. Er hat bereits Tausende von Menschenleben gefordert und eine gewaltige Zerstörung angerichtet.
Amerikanische Medien erörtern die Frage, was denn das Kriegsziel der Ukraine und des Westens sei. Den russischen Vormarsch im Donbass zu stoppen und Putin damit an den Verhandlungstisch zu zwingen, ist ein realistischer Plan. Die russischen Truppen ganz aus der Ukraine schlagen zu wollen, wäre hingegen verwegen.
Putins Armee zeigte erstaunliche Schwächen im Vormarsch auf Kiew und Charkiw. Nun, da die Zerstörungsmaschinerie in kleinen, flachen Teilen des Donbass eingesetzt wird, kommt sie langsam voran. Die Ukraine braucht mehr schwere Waffen, um dagegenhalten zu können. Putin hört nicht auf mit seinem Vernichtungszug, bis er an eine klare Grenze stösst. Kissinger sprach davon, dass der Zustand anzustreben sei, der vor dem 24.Februar herrschte. Für die Ukraine, deren Existenz auf dem Spiel stand, wäre das ein gewaltiger Erfolg. Möglich ist er nur, wenn die Hilfe des Westens nicht stockt.