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Schnauz oder Nicht-Schnauz: Mein Bodyshaming-Experiment

Unangemeldet liess ich mir diesen Frühling zum ersten Mal im Leben ein stoppeliges Oberlippenbärtchen wachsen - und staunte über die heftigen Reaktionen zwischen Kommentarschwemme und Kussverweigerung. Ein lehrreiches Experiment.

Es ist einer der Vorteile, ein mittelälterer Herr, knapp Ü50, zu sein: Von Bodyshaming wird man in der Regel verschont. Wir müssen keine Mutter ertragen, die missbilligend über die Pfunde der erwachsenen Tochter den Kopf schüttelt. Wir müssen keine menschenunwürdige Zurichtung wie in Germanys Next Topmodel (GNTM) erdulden, wo ältere Männer mit Messband junge Mädchen betatschen, die daraufhin prompt wegen zwei Zentimetern mehr Hüftumfang von Ex-Model Heidi Klum abgestraft werden.

Wir Männer schmunzeln unsere Körpermakel einfach weg

In meiner Altersklasse ist es so: Die grauen Haare und die paar überschüssigen Bauchpfunde kommentiert kaum jemand – oder besser noch: Mann trägt beides mit schmunzelndem Stolz oder tut wenigstens so. Aber wie war das noch damals, als schmalbrüstiger, schlaksiger Teenager? Meine abstehenden Ohren hätte ich am liebsten vom Schönheitschirurgen korrigieren lassen. Wohin sind diese Minderwertigkeitsgefühle verschwunden? Darüber nachdenkend habe ich diesen Frühling unangemeldet ein Bodyshaming-Experiment gestartet. Seit eh und je bartlos, liess ich mir einen Schnauz wachsen, so ein Stoppelteil auf der Oberlippe plus kleine Fortsetzung unter der Unterlippe und Ziegenbärtchen am Kinn. Für einen zeitgeistigen Hipster-Vollbart ist meine Backenbehaarung leider viel zu dürftig – und ich vielleicht nicht mehr im geeigneten Alter?

«So küsse ich dich nicht mehr»

In meinen Jugendjahren in den späten 1970ern hat man den Schnauz unschmeichelhaft als «Zuhälterbärtchen» verspottet. Aber Mode kommt, Mode geht. Dreitagebart, Vollbart, kein Bart – ich hatte mich nie darum gekümmert und mich jahrzehntelang jeden Morgen rasiert. Die Reaktionen auf meinen Überraschungs-Schnauz schwankten denn auch zwischen der Verblüffung bei Bekannten («Ich hätte dich fast nicht erkannt») und der innerfamiliären Abscheu («So küsse ich dich nicht mehr»). So weit so vorhersehbar.

Ist das nun schon Emanzipation?

Dass ich selbst jedoch Freude an diesem Stoppelbärtchen bekam, hätte ich nicht gedacht. Und dass ich mir dank eigener Erfahrung nun einen viel besseren Eindruck davon machen kann, wie sich eine Frau fühlt, wenn sie ständig beobachtet und nach Äusserlichem beurteilt wird, war lehrreich. Ich fand diesen Schnauz einfach cool, musste ihn aber tagaus tagein verteidigen. Gewehrt habe ich mich mit einer Kerndefinition von Emanzipation, denn emanzipiert war es doch, was ich tat: Sich mit seiner eigenen Lebenshaltung, die niemandem Schaden zufügt, aus einer vermuteten oder realen gesellschaftlichen Norm zu befreien und mit einem Achselzucken widersetzen. Was zugegeben ermüdend sein kann. Aber ich fühlte mich jeden Tag unheimlich emanzipiert.

Oh, Hamlet – Bruder im Geiste des Widerstands

Und kein Witz: Mir half die Literatur. Ich kalauerte mit Hamlet: «Schnauz oder nicht Schnauz – das ist hier die Frage. Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern der wütenden Mitbewohnerinnen erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Spötteleien, durch Widerstand sie enden.» Sein oder Nichtsein – alter Shakespeare, oh trauriger Hamlet, Freund im Geiste – ich fühlte mit dir, seit ich mich mit dem Wachstum eines Oberlippenbärtchens ausgestossen fühlte – und deshalb den Hamlet-Monolog etwas angepasst habe. Gut, bei ihm ging es vor 400 Jahren ums Ganze: um Verrat und Rache, um Leben und Tod.

Emanzipation sollte die Selbstironie nicht vergessen

Bei mir blieb es letztlich nur eine anekdotische Marotte und ein Bodyshaming-Experiment: Schnauz oder nicht Schnauz. Denn die Barthaare sahen im Spiegel zwar cool aus, fühlten sich aber dann auch für mich auf die Dauer eher wie Borsten an. Wirklich unangenehm. Die Nassrasur beendete schliesslich die Episode. Seither muss ich nun andere Kommentare ertragen: «Gell, Du hast den Schnauz nur rasiert, weil Du die Kuss-Abstinenz nicht ertragen kannst.» Auch mit diesem Missverständnis kann ich leben, das gehört zur Emanzipation.

Was ist die Moral aus der Geschichte? Emanzipation heisst: Widerstand ertragen und Selbstironie nicht vergessen. Und darüber hinaus ein dringender Rat zur Entlastung unserer Töchter: Privatsender, die derart üblen, antiemanzipatorischen Mist wie GNTM ausstrahlen, löscht Jung und Alt, Mann und Frau am privaten TV-Gerät ganz einfach aus der Senderliste.