Nach Sieg in Deutschland: Kim de l’Horizon gewinnt auch den Schweizer Buchpreis
Eine Überraschung gab es dieses Jahr beim Schweizer Buchpreis nicht. Dass mit dem Gewinn des Deutschen Buchpreises schon die Siegerfanfare für sein Schweizer Pendant angestimmt wird, war naheliegend. Insofern ist Kim de l’Horizon die logische Siegerfigur. Der laute Jubel bei der Preisverkündung im voll besetzten Foyer des Theaters Basel war dann auch eine Demonstration des öffentlichen Hypes um Buch und nonbinäre Autorperson.
Würde allerdings beim hiesigen Buchpreis ein Publikumsvoting entscheiden, hätte man den Hauptpreis aufteilen müssen. Bei der Onlineumfrage von Radio SRF 2 etwa lagen Kim de l’Horizons «Blutbuch» mit 33 Prozent, und Thomas Hürlimanns «Der rote Diamant» mit 34 Prozent der Stimmen Kopf an Kopf.
Auch bei der Literaturkritik standen die beiden gleichauf im Rating. Es sind zweifellos tolle, herausragende Romane – so unterschiedlich und kaum vergleichbar sie auch sind. Die anderen drei nominierten Romane fanden sich weit abgeschlagen, auch was die mediale Beachtung anbetrifft.
Während Hürlimanns Roman breit und auch in vielen deutschen Medien euphorisch besprochen worden ist, hat Horizon sowohl Buch wie Autorperson mit dem Deutschen Buchpreis fulminant in die Schlagzeilen katapultiert.
Junger Shootingstar gegen virtuosen Altmeister
Und es stimmt, wie die Jury ihren Entscheid begründet: In «Blutbuch» wird nicht nur Erfahrung variantenreich in Literatur verwandelt, sondern mit genderfluider Sprache und Formenvielfalt auch «erzählerisches Neuland betreten». In «Blutbuch» schildert Kim de l’Horizon, wie es wirklich ist, in einem nonbinären Körper zu stecken.
Daneben musste der meisterhafte, anspielungsreiche, vergnügliche Internatsroman, aber dramaturgisch konventionelle Roman «Der rote Diamant», in welchem auch die rebellischen 1960 Jahre besichtigt werden, wohl hinten anstehen – auch wenn die Jury heftig diskutiert habe, sagte Jurypräsidentin Sieglinde Geisel.
Der Buchpreis ist mit insgesamt 42’000 Franken dotiert. Der Preisträger oder die Preisträgerin erhält davon 30’000 Franken. Der restliche Betrag wird unter den anderen Finalisten gleichmässig aufgeteilt. Vergangenes Jahr hatte Martina Clavadetscher den Buchpreis für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» erhalten.
Prominente Autoren kehren dem Buchpreis den Rücken
Dieses Jahr warf der Buchpreis allerdings auch einen den Wettbewerb verfälschenden Schatten voraus. Zwar kam mit 88 Büchern aus 58 Verlagen eine stattliche Menge zur Prüfung durch die fünfköpfige Jury. Weil es sich um einen Einreichungspreis handelt, ist aber nicht offiziell, welche Bücher gar nicht erst eingereicht worden sind.
So hatten gerade in den letzten Wochen gleich zwei renommierte Autoren öffentlich erklärt, dass sie dem Schweizer Buchpreis den Rücken gekehrt haben. Die aktuellen Romane von Alex Capus («Susanna») und Alain Claude Sulzer («Doppelleben»), die beide lange auf der Bestsellerlist standen und noch stehen, waren offenbar also gar nicht im Rennen. Beide Autoren begründeten ihren Verzicht in Gastbeiträgen in der «NZZ am Sonntag». Sulzer wollte nicht zum dritten Mal die schmerzhafte Erfahrung machen, als Verlierer gute Miene zum demütigenden Spiel zu machen.
Der Buchhandel hätte wohl lieber zugänglichere Romane
Dass solche Preise eher die Missgunst unter den Literaturschaffenden förderten als das Verständnis für die Kunstform Literatur, formulierte auch Alex Capus. Er argumentierte, Literatur sei kein olympischer Wettkampf, er selbst wolle auch kein Zirkuspferd des Literaturbetriebs werden. Beim Buchpreis gehe es «für mein Empfinden zu wie früher bei der Wahl der Miss Schweiz.» Und anders als beim Weitsprung entziehe sich «Schönheit, Tiefe und Wahrhaftigkeit» von Literatur gerade jeder Messbarkeit.
Diese Vorbehalte gegenüber dem Schweizer Buchpreis sind nachvollziehbar. Dass sich viele Nominierte an der Verleihungsfeier gequält fühlen, ist kein Geheimnis. Und dass der Buchhandel sich tendenziell zugänglichere Romane auf der Fünferliste der Nominierten wünschen würde, ist ebenfalls immer wieder zu hören. Denn ein Kannibale, ein manisch-depressiver, schwuler und drogensüchtiger Künstler sowie ein verbitterter Kleinbauer in Finnland (die Hauptfiguren der Romane von Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger) bieten wahrscheinlich nicht gerade super Verkaufsargumente.
Die Buchpreis-Jury wahrt ihre Unabhängigkeit
Aber man bewundert die Unabhängigkeit der Jury, die sich so auch nicht dem Vorwurf gefallen lassen muss, der Buchpreis sei eine reine Marketingmaschine des Schweizer Buchhandels- und Verlagsverbandes. Jurysprecherin Sieglinde Geisel hatte es im Vorfeld schon betont: Entscheidend seien existenzielle Stoffe sowie deren sprachliche Virtuosität und Kühnheit. Und unter diesem Gesichtspunkt ist die dem künstlerischen Avantgardismus verpflichtete Juryhaltung plausibel. Gerade in der Vergleichssituation werden Diskussionen über literarische Kriterien und Bewertungen intensiver geführt – auch wenn diese zwangsweise nicht zu einem Ende kommen.