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Würden die «Satanischen Verse» heute noch veröffentlicht?

Nach dem Mordanschlag auf Salman Rushdie: Grossbritannien diskutiert über Meinungsfreiheit und Extremismus.

Wie ist es derzeit um die Meinungs- und Publikationsfreiheit bestellt? Wie geht die Gesellschaft mit (über-)empfindlichen Minderheiten um? Wie gross ist die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und seine Förderer? Der Mordanschlag auf Salman Rushdie hat in Grossbritannien, neben mancherlei historischer Rückschau auf die Fatwa gegen den berühmten Autor, eine Debatte über diese Fragen ausgelöst.

Medien und Politiker, angefangen bei Premierminister Boris Johnson, sind sich einig, man dürfe vor Extremisten keinen Zentimeter zurückweichen. Intellektuelle geben sich skeptisch: Heute hätte «doch keiner genug Mut, um die ‹Satanischen Verse› zu schreiben», glaubt der Romancier Hanif Kureishi, ein Freund des lebensgefährlich Verletzten.

Boris Johnson verteidigt die Meinungsfreiheit

Die Nachricht vom Messerangriff in Chautauqua (US-Bundesstaat New York) war erst wenige Stunden alt, da meldete sich der zuletzt kaum noch in der Öffentlichkeit präsente Noch-Regierungschef aus dem Urlaub zu Wort. Der 75-Jährige Rushdie, nicht erst seit der Kontroverse um sein 1988 erschienenes Werk ein unermüdlicher Vorkämpfer für die Meinungsfreiheit, hatte Johnson zufolge «ein Recht ausgeübt, das zu verteidigen wir nicht aufhören dürfen». Labour-Oppositionsführer Keir Starmer brauchte hingegen beinahe einen Tag, um den «feigen Anschlag auf jemanden, der den Kampf um die Freiheit verkörpert», zu verurteilen.

Iranische Revolutionsgarden sanktionieren?

Einer der beiden Bewerber um Johnsons Nachfolge, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, nutzte die Gelegenheit für ein assenpolitisches Signal: Da das iranische Regime die Todesdrohungen gegen Rushie und alle an der Veröffentlichung seines Buches Beteiligten bis heute nicht zurückgenommen habe, müsse man Teherans Revolutionsgarden mit Sanktionen belegen. Die Truppe gilt in den USA schon heute als terroristische Vereinigung.

Die konservative «Sunday Times» wies auf das weitverbreitete Gefühl in der Literaturszene hin, wonach Autoren und Verlage schon in vorauseilendem Gehorsam vor Kontroversen zurückscheuen oder allzu schnell selbsternannten Sittenwächtern nachgeben. Der in Japan geborene englische Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro (Was vom Tage übrigblieb) beklagte im vergangenen Jahr ein «Klima der Furcht», in dem junge Autoren aus Furcht vor einem «anonymen Lynchmob» Selbstzensur betreiben.

«Meinungsfreiheit hat heute engere Grenzen»

Ähnlich schätzt Rushdies Freund Kureishi (Der Buddha aus der Vorstadt) die Stimmung auf der Insel ein: Die Satanischen Verse würden heute gar nicht mehr geschrieben, so das bittere Fazit des Pakistan-stämmigen Engländers. Und wenn doch jemand das Buch schriebe, führt die frühere Präsidentin des britischen PEN-Clubs, Lisa Appignanesi, das Argument weiter, «würde es nicht veröffentlicht». Pessimistisch beurteilt auch der Autor Kenan Malik die Stimmung in der literarischen Welt. Rushdies Kritiker hätten die Schlacht verloren, aber den Krieg gewonnen:

«Die Meinungsfreiheit hat heute viel engere Grenzen, teilweise als Antwort auf die Rushdie-Affäre.»

Die fälschlich nach ihm benannte Affäre stellte in Wirklichkeit, darauf hat der Autor immer wieder hingewiesen, einen Kampf vormodernen Denkens gegen die westliche Aufklärung, Invididualrechte und Demokratie dar. Als Wetterleuchten am Horizont erschien damals jener selbstgerechte religiöse Fanatismus, der wie einst der deutsche Faschismus erst Bücher, bald aber auch Menschen verbrannte.

Salman Rushdies Roman wurde verbannt und verbrannt

In Bombay geboren, im englischen Internat Rugby erzogen, als Schriftsteller (Mitternachtskinder) in London erfolgreich, wurde der agnostische Muslim, später Atheist Rushdie zur Zielscheibe des religiösen Fanatismus muslimischer Spielart. Sein vierter Roman Die Satanischen Verse wurde in vielen Ländern verboten, im nordenglischen Bolton öffentlich verbrannt. Die ursprünglich saudisch-sunnitischen Proteste übertrumpfte am Valentinstag 1989 der iranisch-schiitische Religionsführer Ayatollah Khomeini: Er belegte den Autoren sowie alle an der Veröffentlichung des Buches Beteiligten mit der Fatwa, einem religiösen Bannfluch, und damit der Todesstrafe.

Rushdies Autobiographie «Joseph Anton», mit der er 2012 einen Strich unter die Jahre der Angst zu ziehen versuchte, beginnt an jenem 14. Februar. Plötzlich stand der Bestsellerautor unter Polizeischutz, musste alle drei Tage umziehen, brauchte eine neue Existenz, einen neuen Namen. Zwei seiner Lieblingsautoren fielen ihm ein: Joseph Conrad, Erzähler glänzender Abenteuerromane, und der russische Dramatiker Anton Tschechow.

In dem 720 Seiten starken Werk blättert Rushdie auf, was dieser Tage von linksliberalen Blättern wie «Independent» oder «Guardian», ganz zu schweigen von der rechten Hasspostille «Daily Mail», unter den Teppich gekehrt wird: Anstatt uneingeschränkte Solidarität mit dem Verfolgten zu üben, gaben viele Medien dessen Kritikern Raum zu öligen Rechtfertigungen, nutzten führende Politiker den teuren Polizeischutz für den vom Tode Bedrohten zu bösartigen Angriffen gegen ihn.

Britischer Muslimenrat verteidigte die Fatwa gegen Rushdie

Prominente Muslime durften unwidersprochen ihrem Hass freien Lauf lassen. Ex-Popsänger Cat Stevens, mittlerweile als Yusuf Islam bekannt, verlieh seiner Hoffnung auf den Tod des Verfemten Ausdruck und bot etwaigen Attentätern seine Mithilfe an – bei den Zitaten handele es sich um Medienmanipulation, betont der Musiker heute. Der Sprecher eines «Aktionskomitees für islamische Angelegenheiten», Iqbal Sacranie, sagte: «Der Tod ist für Rushdie eigentlich noch zu wenig.» Der Mann gehörte später zu den Mitgründern des britischen Muslimenrates MCB, wurde 2005 auf Vorschlag der Labour-Regierung zum Ritter ernannt.

Mittlerweile ist dem immer wieder von islamistischen Mordanschlägen heimgesuchten Land – zuletzt starb im vergangenen Jahr der Unterhausabgeordnete David Amess unter den Messerstichen eines Extremisten – mittlerweile deutlich geworden, worauf Rushdie stets hinwies: Das Vorgehen der Fanatiker gegen ihn, seine Übersetzer und Verleger – der Japaner Hitoshi Igarashi wurde erstochen, der Italiener Ettore Capriolo schwer verletzt, in Norwegen entging Verlagschef William Nygaard nur knapp einem Mordanschlag – war vergleichbar mit der ersten Krähe in Alfred Hitchcocks Film «Die Vögel», also erstes Anzeichen jenes Fundamentalismus-Sturmes, der die Welt bis heute in Atem hält. Man könne, schrieb der Autor damals, «eine direkte Linie ziehen» von den Attacken gegen die Satanischen Verse zu den Massenmorden in den USA am 11. September 2001 und in London am 7. Juli 2005. Nun reicht die Linie also bis nach Chautauqua – 34 Jahre nach Erscheinen der «Satanischen Verse».