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Locarno Film Festival: Zum Auftakt fährt ein Zug nach Nirgendwo

Alles ist angerichtet für eine Feier des Films: Das Sommerwetter passt, die Ambitionen des Festivals zum Jubiläum sind spürbar. Jetzt müssen nur noch die Filme einen Gang zulegen.

Kraft! Energie! Passion! Mit diesen – und weiteren – dynamischen Worten beschwor Direktor Marco Solari zum 75. Jubiläum lautstark den Geist des Festivals. Beweglich müsse es sein, der Gegenwart ebenso verpflichtet wie der Tradition; dies alles zu kuschligen 35 Grad in der stehenden Luft von Locarno, die jede Regung, gar eine ambitionierte, zum schweisstreibenden Saunagang werden lässt.

Dazu schwang zur Eröffnung die derzeit fast verschwunden scheinende Coronapandemie mit, die das Festival doch in den vergangenen beiden Jahren vor erhebliche Herausforderungen stellte, wie der operative Leiter Raphaël Brunschwig betonte. Bundesrat Alain Berset erzählte indes versonnen eine Anekdote vom Anarchisten Michail Bakunin – kann man machen. Und natürlich konnte der Krieg in der Ukraine nicht unerwähnt bleiben, der wie ein Senkblei über allem hängt.

Ein starbesetztes Action-Vehikel

Doch alles in allem will Locarno vor allem eines demonstrieren: Mit 75 zählt man noch lange nicht zum alten Eisen – und hat noch allerhand zur siebten Kunst beizutragen. Ob das Kino gegen das stumpfe Unbill in der Welt irgendwie ankommen kann, mit seinen vielfältigen Erzählweisen? Ist die Fiktion in der Lage, den trüben Fakten etwas entgegenzuhalten?

Eigentlich möchte man das nicht glauben, doch die grosse Beschwörungsinstanz Locarno lässt Mal ums Mal kurz die Illusion aufscheinen, es sei möglich. Zumindest auf der Piazza, die abendlich zu einem Lichtspielgottesdienst wird, zu dem Tausende pilgern. Und ganz vereint sind im gemeinschaftlichen Sehen, dem seit langem vergeblich der Tod prophezeit wird.

Dieses Jahr ist der Eröffnungsfilm, das starbesetzte Action-Vehikel «Bullet Train», bis auf den letzten Platz ausverkauft. Es mag sicher gute Gründe gegeben haben, den Film, der diese Woche in den Schweizer Kinos startet, zu programmieren. Einer davon ist Hauptdarsteller Brad Pitt. Der war zwar nicht vor Ort, bestellte aber zumindest jovial grinsend Grüsse und Glückwünsche per Videobotschaft an das Publikum.

In «Bullet Train», benannt nach seinem Handlungsort, einem japanischen Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug, spielt Pitt einen alternden Auftragskiller, der lieber pazifistischer Hippie-Aussteiger wäre. So soll er diesmal nur einen Koffer stehlen, doch die Tatsache, dass im ganzen Zug verteilt andere Killer mit unterschiedlichen Zielen sitzen, macht der Suche nach dem Seelenheil einen dicken Strich durch die Rechnung. Die Prämisse, die nach einem herrlichen Sommerspass klingt, entpuppt sich jedoch als zähe Fahrt ins Nirgendwo.

Die, ganz postmodern, mit Nebensträngen voll geschachtelte Geschichte entwickelt nach einer intensiven ersten halben Stunde keine Rasanz, die Witze zünden selten. Am Ende explodiert das Ganze in manierierter Comic-Action, fliegen Eisenbahnwaggons über die Leinwand und in dem Moment ist es einem auch schon egal, dass nur diejenigen keine Schramme abbekommen, denen das gefällige Drehbuch dies zugesteht.

Wenn Guy Ritchie zumeist Quentin Tarantino mässig kopiert, so kopiert «Bullet Train»-Regisseur David Leitch Guy Ritchie etwas besser. Sein Film ist nicht so schnittig wie ein japanischer Zug, handwerklich weniger solide als die SBB – allerdings auch nicht so eine Katastrophenfahrt wie mit der Deutschen Bahn. Die Reaktionen von Teilen des Publikums fielen dementsprechend eher amüsiert denn begeistert aus.