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Trotz Sing- und Dichtverbot: So bahnte sich die Lyrik aus dem Straflager Guantánamo ihren Weg in die Freiheit 

Nicht nur im Iran spielen Lieder und Verse eine Rolle im Widerstand. Auch die Insassen im Straflager Guantánamo ringen mit Worten um ihr Überleben. So kaputt ihre Gedichte sind, so kaputt ist die Gesellschaft, die sie geformt hat.

«Die Worte des Dichters sind der Quell unserer Kraft; / sein Vers ist der Balsam unserer gequälten Herzen.» Ein etwas gar dick aufgetragener Albumvers? Nein, ein wahrhaftiger Seufzer aus der Tiefe, ein Zeugnis von Rettung durch Poesie. Nicht nur im Iran spielen Lieder und Verse eine Rolle im Widerstand und werden unterdrückt. Auch unter der Knute der Möchtegern-Moral-Grossmacht USA geschieht solches.

Das Zitat stammt aus der «Ode an das Meer» von Ibrahim al-Rubaish, einem Häftling aus Guantánamo. Das Gefangenenlager wird von den USA seit über 20 Jahren so betrieben, als würden in der kubanischen Bucht keine Menschenrechte gelten. Fast 800 Männer wurden ohne Prozess festgehalten und gefoltert, von denen die Mehrheit keine terroristischen Verbindungen hatte.

Dass überhaupt ein paar lyrische Brocken aus Guantánamo veröffentlicht wurden, ist ein kleines Wunder. Die Publikationsgeschichte ist eine Geschichte von Verhinderung, Verstümmelung, Verleumdung und Herabwürdigung – eine gross angelegte Cancelorgie, in welcher der Staatsapparat und die Literaturkritik eine unheilige Allianz eingingen.

Ihre Existenz verdanken die Gedichte der Anwaltskorrespondenz

Die Häftlinge durften weder singen nach dichten, und wenn sie etwas aufschrieben (etwa in Styroporbecher ritzten), wurden sie bestraft und die Erzeugnisse vernichtet. Als über die Anwaltskorrespondenz doch einige Verse in die Aussenwelt und 2007 in den USA schliesslich zur Publikation gelangten, war dies nur in einer mangelhaften englischen Übersetzung von dem FBI genehmen Personen möglich.

Dass die US-Kritiker den Gedichten ihre ungesicherte und ungeschliffene Form vorwarfen, ist nicht nur zynisch, sondern auch ignorant. Denn gerade die verstümmelte Form ist der gesellschaftliche Gehalt dieser Kunstwerke. Er verweist auf ihren Widerstandscharakter, auf ihre Rolle im Kampf der Guantánamo-Häftlinge ums Überleben. So kaputt die Gedichte sind, so kaputt ist die Gesellschaft, die sie geformt hat.

Doch die Gedichte sind nicht allein Zeugnisse und Mahnmale, sondern sie können auch als autonome Kunstwerke gelesen werden. Besonders fein ist die Balance zwischen beiden Aspekten in der «Ode an das Meer».

Die lyrische Stimme wettert hier nicht gegen die Unterdrücker, wie es andere Dichter aus Guantánamo tun. Das Meer wird angerufen, zunächst als das Element, das Al-Rubaish mit seiner fernen Familie zugleich verbindet und trennt: «O Meer, bring mir Neuigkeiten von meinen Liebsten. / Wären die Ketten der Gottlosen nicht, ich wär in dich hineingetaucht / und wäre zu meiner geliebten Familie geschwommen oder in deinen Armen zugrunde gegangen.»

Im Meer lauert der Tod. Es ist Teil des Schreckensregimes, in dem Al-Rubaish wehrlos feststeckt. So wird das Meer zum Symbol für die Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Unverständlichkeit des Schicksals, mit dem Al-Rubaish geschlagen ist. Eine Reihe von Fragen an das Meer erinnert an den verzweifelten Hiob. «O Meer, kränken dich unsere Ketten?», mutmasst er. «O Meer, du verhöhnst uns in unserer Gefangenschaft», klagt er.

Und doch blitzt das Meer in der Ode auch als Chiffre für eine unzerstörbare innere Kraft auf. «Drei Jahre warst du an unserer Seite, was hast du erreicht? / Boote voller Lyrik auf dem Meer; eine begrabene Flamme in einem brennenden Herzen.» Die Flamme mag begraben werden, auslöschen lässt sie sich nicht.

Ibrahim al-Rubaish konnte in Guantánamo keine Straftat nachgewiesen werden. Als er nach fünf Jahren Haft nach Saudi-Arabien deportiert wurde, schloss er sich Al-Kaida an. 2015 wurde er im Jemen in einem Drohnenangriff ermordet, vermutlich von den USA.

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