Sie sind hier: Home > Medizin > Amélie wurde als eines der ersten Kinder bereits im Mutterleib operiert – so geht es ihr heute

Amélie wurde als eines der ersten Kinder bereits im Mutterleib operiert – so geht es ihr heute

In der 17. Schwangerschaftswoche stellten Ärzte einen offenen Rücken bei Amélie fest. Es folgte eine hochkomplexe Operation am ungeborenen Kind. Die Hoffnung: Amélie ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Ein Besuch bei der quirligen 10-Jährigen.

Amélie freut sich. In etwas mehr als einer Stunde schlüpft sie in ihre Reitstiefel und fährt zum Pferd Brunia. Reiten ist das grosse Hobby des Mädchens. Gleichzeitig sind die Nachmittage mit Brunia Teil von Amélies Therapie. Das Reiten hilft der 10-Jährigen, die Rumpfmuskulatur zu stärken.

Doch noch sitzt Amélie am Tisch in der lichtdurchfluteten Wohnküche. Ihre blonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz hochgebunden, sie trägt lila Sneakers und eine sportliche Uhr. Amelie ist ein lebhaftes Mädchen. Eines, das dem Blick nie ausweicht, schnell antwortet und ihrer Mutter ins Wort fällt, wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden ist.

Sie wirkt älter und selbstbewusster als viele Gleichaltrige. Vielleicht, weil sie in ihren jungen Jahren schon viel gemeistert hat. Als Kind, als Baby und als Ungeborenes.

Es war in der 17. Schwangerschaftswoche, als der Gynäkologe beim Ultraschall stutzte. Manuela Hui, die Mutter von Amélie, erinnert sich gut daran. Der Frauenarzt entdeckte einen offenen Rücken (Spina bifida) beim Fötus. Die Stieftochter von Hui war ebenfalls im Raum. Für sie rissen sich die werdenden Eltern zusammen, versuchten ganz ruhig zu bleiben.

Zu Hause lasen sie: Bei Spina bifida handelt es sich um eine Fehlbildung der Wirbelsäule, wodurch das Rückenmark an der betroffenen Stelle nicht geschützt ist. Bei der schwersten Form von Spina bifida tritt das Rückenmark auf einer Zyste sichtbar nach aussen. Die offene Stelle kann verschieden gross sein und an unterschiedlichen Positionen entlang der Wirbelsäule liegen.

Je nachdem ist das Rückenmark mehr oder weniger stark beschädigt. Entsprechend können die Folgen einer Spina bifida von wenigen Beeinträchtigungen bis zur kompletten Querschnittslähmung reichen. Die Betroffenen kämpfen mit Lähmungen sowie mit fehlender Kontrolle von Darm und Blase. Häufig tritt bei Spina bifida zudem ein Hydrozephalus – umgangssprachlich ein Wasserkopf – auf, eine Ableitungsstörung des Hirnwassers. Spina bifida wird begünstigt durch einen Mangel an Folsäure. Die entsprechenden Präparate hatte Hui aber stets eingenommen.

Amélies Eltern erfuhren zudem: Ein solch offener Rücken lässt sich vorgeburtlich operieren. Zwar ist eine Heilung nicht möglich, doch die Kinder können mit einem geringeren Behinderungsgrad rechnen. Für Manuela Hui und ihr Mann war rasch klar: Das ist ihr Weg: «Wir wollten Amélie die bestmöglichen Chancen ermöglichen.»

Bei der Operation werden zwei Menschen gleichzeitig operiert

Amélie war erst die 13. Patientin, deren offener Rücken am Universitäts-Kinderspital Zürich im Mutterleib verschlossen wurde. Das geschah in der 25. Schwangerschaftswoche. Die Operation muss rasch geschehen. Das Zeitfenster ist kurz, sonst wird das Rückenmark zu stark beschädigt durch den enger werdenden Platz im Mutterbauch und das zunehmend schädliche Fruchtwasser.

Stark vereinfacht lässt sich der Eingriff wie folgt zusammenfassen: Unter Vollnarkose wurden Manuela Hui Bauch und Gebärmutter aufgeschnitten. Danach drehten die Spezialisten Amélie, sodass sie ihren offenen Rücken im Mutterleib verschliessen konnten. Anschliessend nähten sie die Gebärmutter wieder zu und liessen das Baby drei weitere Monate im Bauch ihrer Mutter heranwachsen. Wehenhemmende Medikamente sorgten dafür, dass sich Amélie nicht zu früh aufmachte, die Welt zu entdecken.

«Für das Kind ist das grösste Risiko bei diesem Eingriff eine Frühgeburt», sagt Ueli Möhrlen. Er ist Direktor Chirurgie im Zürcher Kinderspital. Gemeinsam mit seinem Vorgänger Martin Meuli, einem Pionier in der Fetalchirurgie, und Spezialisten aus der Geburtshilfe hatte er 2010 das dortige Programm für Kinder mit Spina bifida aufgebaut. Daraus wurde eines der grössten Kompetenzzentren in Europa für diese hochkomplexen Operationen.

Bis heute fanden im Zürcher Universitäts-Kinderspital 230 solche Eingriffe statt. Mit einer Ausnahme war Möhrlen bei allen dabei. «Die besondere Herausforderung liegt darin, dass wir zwei Menschen gleichzeitig operieren», sagt er. Sowohl Mutter wie auch Kind müssen dabei permanent überwacht und behandelt werden.

Zwei Kinder haben bislang den Eingriff nicht überlebt. Das eine starb unmittelbar nach der Geburt, das andere wenige Tage nach dem Eingriff. «Die Sterblichkeit liegt unter einem Prozent, was eine sehr gute Prognose ist. Aber die Kinder, die wir verloren haben, bleiben uns. Das ist etwas, das man nicht erleben will», sagt Möhrlen.

Heute sind die ersten seiner pränatalen Patientinnen und Patienten Teenager. Wie geht es ihnen? «Die Erfahrungen sind sehr erfreulich. Wir können den Kindern nicht alle Probleme abnehmen, aber ihre Lebensqualität lässt sich mit der Operation deutlich verbessern», sagt der Kinderchirurg.

In Zahlen ausgedrückt, bedeute das: 84 Prozent der Patientinnen und Patienten können gehen, ein Drittel kann ihre Blase und ihren Stuhlgang selber kontrollieren und nur rund 40 Prozent benötigen einen Shunt. Letzterer ist ein Katheter, der bei einem Hydrozephalus überschüssige Hirnflüssigkeit ableitet. «Bevor wir vorgeburtlich operierten, benötigten praktisch alle Kinder mit Spina bifida eine solche Shunt-Versorgung. Ebenfalls waren fast alle inkontinent und viele auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie mussten also mit ausgeprägten Behinderungen leben, die sich nach der Geburt nicht mehr korrigieren lassen», sagt Möhrlen.

Etwa einer von 1000 Föten in Mitteleuropa ist von Spina bifida betroffen. Die Diagnose stellt werdende Eltern vor die schwerste Frage überhaupt: Behalten sie das behinderte Kind oder treiben sie ab? Die meisten entscheiden sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Manuela Hui wurde auch schon angerufen und nach ihren Erfahrungen gefragt. «Ich erzähle dann von unserem Weg und unserem Alltag, masse mir aber kein moralisches Urteil an und rate zu nichts. Jede Familie muss für sich entscheiden, ob sie ein Kind mit Behinderung begleiten kann und will», sagt Hui.

Amélies grosser Traum: Ein eigenes Pferd

Amélie kam in der 37. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt zur Welt. Bevor sie nach Hause durfte, verbrachte sie noch eine Woche im Kinderspital. Zig Tests standen an: Wie verheilt ihre Narbe am Rücken? Funktionieren Blase, Darm und Nieren? Wie wächst ihr Kopf?

Amélie hatte Glück, sie brauchte keinen Shunt. Neurologisch hat sich bei ihr alles gut entwickelt. Von den Nervenschäden betroffen ist allerdings ihre Blase. Deshalb lernten die Eltern bereits wenige Tage nach der Geburt, ihrem Baby Katheter zu legen. Als Amélie zweieinhalb Jahre alt war, ging eine Blasen-Operation schief. Fortan war es nicht mehr möglich, dem Mädchen einen kleinen Schlauch in die Harnröhre zu legen. Eine weitere Operation folgte, wobei mit dem Blinddarm eine Art natürlicher Harnleiter zum Bauchnabel geformt wurde. Seitdem kann sich Amélie auf diesem Weg mit einem Katheter ihre Blase entleeren.

Amélie schlägt ein dickes Fotoalbum auf: «Guck, hier sieht man meine Narbe am Rücken, als ich zur Welt gekommen bin.» Sie blättert weiter: «Und hier bin ich mit Gips nach meiner ersten Hüft-OP.» Das Foto zeigt ein blondes vierjähriges Mädchen, das auf einem Bett ein Eis isst. Weil ihre Hüftpfannen nicht richtig ausgebildet waren, benötigte sie einen korrigierenden Eingriff.

Kliniken, aber auch Rehas, Physio- oder Ergotherapien: Diese kennt Amélie zur Genüge. Sie blickt vom Fotoalbum auf und sagt: «Von meiner letzten OP im vergangenen Jahr sind noch Platten in der Hüfte. Die müssen irgendwann raus. Aber ich möchte eigentlich nie mehr eine Operation haben», sagt sie.

Lieber erzählt Amélie von ihrem grossen Traum: ein eigenes Pferd zu haben. Später möchte sie mal Bäuerin oder Lehrerin werden. Ob sie gerne zur Schule gehe? «Eher nicht», sagt Amélie. Der Alltag ist anstrengender für sie als für Gleichaltrige. Sie muss früher aufstehen, um ihre Medikamente zu nehmen und ihre Orthesen – Beinschienen – anzuziehen. Diese braucht sie, weil sich ihre Füsse teilweise taub anfühlen und ihre Fussmuskulatur entsprechend schwach ist. Zudem weist einer ihrer Füsse eine Fehlbildung auf.

Für längere Strecken ausser Haus braucht Amélie einen Rollstuhl. Fährt sie zur Schule, kuppelt sie einen Elektroantrieb dran, sodass sie ihre Kräfte etwas schont, erklärt ihre Mutter. «Aber Mami», protestiert Amélie, «ich habe sehr viel Kraft in meinen Armen. Versuche mal, meinen Arm runterzudrücken!» Und schon hat sie ihren Pullover hochgekrempelt und grinst ihre Mutter herausfordernd an.

Krisen liegen hinter dem Mädchen

Man glaubt es sofort, dass dieses quirlige Mädchen gut in der Schule integriert ist und Freundinnen hat. «Wir hatten ein riesiges Glück, dass die Inklusion so gut funktionierte», sagt Manuela Hui. Doch es liegen auch Krisen hinter Amélie. Wenn sie kräftemässig von ihrem Alltag überfordert war, wenn sie bei gewissen schulischen Aktivitäten ausnahmsweise nicht teilnehmen konnte oder wenn sie mit ihrem Anderssein haderte.

Solch schwierige Situationen kennt auch Hanny Müller-Kessler. Sie ist Geschäftsstellenleiterin des Vereins SBH Schweiz, der sich für Familien und selbst betroffene Erwachsene von Spina bifida und Hydrozephalus einsetzt, sie vernetzt und berät. Junge Familien informierten sich oft nach der Geburt eines betroffenen Kindes oder wandten sich vor dem Schuleintritt an den Verein, erzählt Müller-Kessler. Etwa, weil sie nach Erfahrungen suchen, wie das Entleeren von Darm und Blase in der Regelschule organisiert werden kann.

«Ein grosses Thema ist aber auch die Berufswahl und das Finden einer passenden Arbeitsstelle», sagt sie. Insbesondere, wenn die betroffene Person einen Hydrozephalus hat. «Diese Menschen benötigen in der Regel etwas mehr Zeit für eine Aufgabe. Sie brauchen also Arbeitgeber, die offen und unterstützend sind.» Doch nicht alle Betroffenen seien kognitiv langsamer. Müller-Kessler kennt solche, die Jus studiert oder eine Lehre gemacht haben. Andere wiederum seien an einem geschützten Arbeitsplatz beschäftigt und erhalten eine IV-Rente. «Unsere Mitglieder sind extrem unterschiedlich aufgestellt – sowohl beruflich wie auch in der Wohnform», sagt Müller-Kessler.

Für Amélie ist klar, dass sie einst selbstständig wohnen und finanziell unabhängig sein wird. Einzig eine Operation steht ihr noch bevor, wenn sie ausgewachsen ist: jene ihres Fusses, der fehlgebildet ist. Sonst sollten die Strapazen hinter ihr liegen. Amélie wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist fast drei Uhr. «Mami, wir müssen los!» Brunia und ein Ausritt im Frühling warten.