Fette Sensation: Ein cholesterinsenkendes Hormon des gesunden Körpers wurde 70 Jahre lang übersehen
Es war schon immer im Körper von Gesunden da, nur hat das bisher niemand bemerkt. Die Rede ist vom neu entdeckten Hormon «Cholesin», das chinesische Forscher in einer aufsehenerregenden Studie identifiziert haben.Ihre Resultate publizieren sie gerade im prestigereichsten Biochemie-Journal «Cell».
Dank dem Hormon Cholesin kann endlich das Rätsel gelüftet werden, wie der menschliche Körper es schafft, Cholesterinwerte zielgenau zu regulieren. Gleichzeitig könnte es in nachgebauter Form als Arzneimittel genutzt werden, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser zu bekämpfen. Denn das neu entdeckte Cholesinhormon liefert einen völlig neuen Angriffspunkt fürs Senken
Die Forscher um Wissenschafterin Xiaoli Hu fanden heraus, dass im Darm von Säugetieren das Hormon Cholesin ausgeschüttet wird, wenn durch die Nahrung genügend Cholesterin aufgenommen wird. Das Hormon gelangt dann via Blut in die Leber und stoppt die körpereigene Cholesterinproduktion. So verhindert der gesunde Körper, dass gleichzeitig neues Cholesterin aufgebaut und aufgenommen wird und Blutfettwerte zu hoch werden.
«Die Entdeckung des Hormons ist erstaunlich, weil der Cholesterinkreislauf schon seit 70 Jahren erforscht wird und bereits ein Nobelpreis dafür vergeben wurde», sagt Thomas F. Lüscher, Professor für Kardiologie in Zürich und London. «Offenbar fiel dieses Hormon nicht einmal den Nobelpreisträgern Bloch, Brown und Goldstein auf, die in den 60er-Jahren die Grundlagenforschung für die heute bekannten Mechanismen legten», so der Kardiologe.
Einsatz als Medikament wird heiss diskutiert
Das neu entdeckte Cholesin liefert eine neue schlüssige Erklärung, wieso Herz-Kreislauf-Krankheiten in gewissen Familien gehäuft vorkommen. Denn wenn das Cholesin-System wegen einer genetischen Mutation nicht funktioniert, entgleist die ganze Cholesterin-Mechanik des Körpers und die Werte steigen ungehindert an. Es kommt zur Verfettung der Gefässe und zu den typischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die in westlichen Ländern die häufigste Todesursache darstellen. So sterbenalleine in der Schweiz jedes Jahr mehr als 20 000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die Entdeckerin des Hormons, Xiaoli Hu, erwartet, dass Cholesin künstlich nachgebaut als Medikament viel bewirken könnte: «Besonders vielversprechend könnte eine Kombination von Cholesin mit Statinen oder anderen lipidsenkenden Medikamenten sein», schreibt ihr Forscherteam. Schweizer Fachleute sehen das allerdings kritischer.
Isabella Sudano, leitende Ärztin auf der Kardiologie des Unispitals Zürich, weist darauf hin, dass die Daten aus der «Cell»-Studie noch weit von der Klinik weg seien. Die Forschung erfolgte mehrheitlich am Mausmodell, und obwohl die Cholesin-Proteine auch im Menschen gefunden wurden, ist noch unklar, welche Bedeutung das Hormon für die Behandlung von Krankheiten tatsächlich hat. Denn absolute Zahlen zur Cholesterinsenkung bei Kranken fehlen noch.
Dazu kommt, dass es bereits effektive Therapien gibt. «Statine senken einen erhöhten Cholesterinspiegel heute schon sehr gut. Besonders, wenn man sie mit PCSK9-Hemmern oder Ezetimib kombiniert», erklärt Professor Thomas F. Lüscher, der als neuer Präsident der europäischen Kardiologie-Gesellschaft einen besonders guten Überblick über die aktuellen Richtlinien und Forschungsprojekte hat. Der Mediziner sagt: «Cholesin könnte allenfalls eine künftige Therapiemöglichkeit sein für jene 10 Prozent der Patienten, die bei etablierten Therapien schwere Nebenwirkungen wie Muskelschmerzen zeigen. Das wird aber noch Jahre dauern.»
Denn obwohl Cholesin ein körpereigner Stoff ist, wird er von den Behörden nicht ohne Vergleichs- und Effizienzstudien zugelassen. Pharmafirmen, die am Hormon interessiert sind, müssen zeigen, dass eine Behandlung mit Cholesin die Blutfettwerte mindestens gleich gut senkt wie herkömmliche Therapien. Schnell gehen wird das nicht, selbst wenn die Hormontherapie möglicherweise Geld sparen könnte. Die sehr gut wirksamen PCSK9-Inhibitor-Spritzen gelten nämlich mit einem Preis von über 500 Franken pro Monat als eher teuer.
Wird 2024 das Jahr der Kardiologie-Durchbrüche?
Rascher könnte das neu entdeckte Cholesin für die Diagnostik genutzt werden. Wenn in künftigen Studien nachgewiesen werden kann, dass bei familiär bedingten Herz-Kreislauf-Erkrankungen Cholesin eine Rolle spielt, könnte man Risikopersonen schon viel früher erkennen. «Diese Patienten könnte man mit 30 Jahren präventiv behandeln und so die Entwicklung von schweren Folgen wie Herzinfarkten endlich verhindern», so Mediziner Lüscher.
Damit dieses Szenario Realität wird, braucht es aber auch bessere Therapien. Tatsächlich bahnt sich diesbezüglich in naher Zukunft etwas an, nämlich ein Durchbruch der Genschere Crispr/Cas9. «Studien haben gezeigt, dass Afroamerikaner wegen einer Mutation im PCSK9-Gen deutlich mehr LDL-Rezeptor zeigen und deshalb weniger anfällig sind für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.» Dies versuche man sich aktuell mit einer ersten Gentherapie am Menschen zunutze zu machen.
Ende letzten Jahres hat dieamerikanische Biotechfirma «Verve Therapeutics»bereits eine klinische Studie mit neun Patienten gestartet, welche eine Crispr-Gentherapie in die Leber verabreicht erhielten. Die Bilanz nach ein paar Monaten istlaut einem Zwischenbericht in «Nature» vielversprechend, die hohen Blutfettwerte wurden massiv gesenkt.
«Es gibt also momentan gleich mehrere spannende Projekte aus der Kardiologie, die demnächst zu echten Durchbrüchen führen könnten», resümiert der Schweizer Forscher Thomas F. Lüscher. Dass dabei mit einem natürlichen Hormon und einer hochtechnologisierten Gentherapie zwei so unterschiedliche Ansätze eine Rolle spielen, ist aussergewöhnlich.