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Frankreich sucht die verschwundenen Migranten des Seenotrettungsschiffs «Ocean Viking»

Das Schiff einer Hilfsorganisation hat vor zwei Wochen im südfranzösischen Hafen Toulon angelegt. Doch wo sind die Migranten geblieben? Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin gerät in Erklärungsnot.

Das Rettungsschiff des Hilfswerks SOS Méditerranée hatte Mitte November Schlagzeilen gemacht, weil die neue italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die 234 Geretteten nicht aufnehmen wollte. Andere sprangen ein: Frankreich, Deutschland sowie weitere EU-Staaten wollten je einen Drittel der zugelassenen Passagiere aufnehmen. «Ungefähr 40» Passagiere würden hingegen in ihr Land – dem Vernehmen nach Bangladesch – zurückgeschafft, präzisierte Innenminister Gérald Darmanin.

Zwei Wochen später sieht die Bilanz anders aus: Zwei Malier sind per Flugzeug in ihr Land zurückgeschafft worden; vier weitere Migranten warten in Toulon auf ihr Schicksal. Das macht sechs von 234. Von den übrigen haben sich viele verflüchtigt; andere wurden auf freien Fuss gesetzt, da Darmanins Zollbeamte peinlicherweise nicht zahlreich genug waren für die Asylabklärung. Nach Ablauf der Rechtsfristen entliessen sie die Migranten deshalb aus der improvisierten Transitzone, einem Feriendorf auf der Halbinsel Giens.

«In Luft aufgelöst»

In Paris prangert die konservative Zeitung «Le Figaro» ein «Fiasko der Regierung» an. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen sieht in der «Affäre Ocean Viking» einen augenfälligen Beweis, dass Darmanin und Präsident Emmanuel Macron die Kontrolle über die Einwanderung verloren hätten.

Innenminister Gérald Darmanin.
Keystone

Die konservativen Republikaner werfen der Mitte-Regierung ihrerseits vor, namentlich die minderjährigen Geretteten der «Ocean Viking» hätten sich schon am Tag nach ihrer Ankunft in Toulon «in Luft aufgelöst». Darmanin entgegnete reichlich hilflos, sie hätten sich «nicht völlig aufgelöst». Damit wollte er wohl andeuten, die Polizei überwache ihr Kommen und Gehen.

Die öffentliche Meinung vermochte der agile Minister dadurch nicht zu besänftigen. Sie ist seit einem scheusslichen Mord an einem Pariser Mädchen namens Lola im Oktober aufgebracht. Die Täterin, eine 24-jährige Algerierin, hätte seit langem ausgeschafft werden sollen.

Zwischen den Fronten

Die linksliberale Zeitung «Le Monde» fragte Darmanin, wie viele der 122’000 im Jahr 2021 ausgesprochenen Ausweisungen effektiv umgesetzt worden seien. Der Innenminister musste einräumen, dass nur 17’000 abgewiesene Migranten das Land wirklich verlassen hätten. Mitte dieser Woche gingen die Wogen erneut hoch, als bekannt wurde, dass ein junger Jordanier, gegen den ebenfalls ein Ausweisungsentscheid vorliegt, eine Frau auf einer Pariser Notfallstation vergewaltigt hatte.

Dass Darmanin politisch nicht stärker unter Druck gerät, verdankt er paradoxerweise dem Umstand, dass er von links genauso kritisiert wird – dort allerdings als Macrons Mann fürs Grobe. Die Partei «Das unbeugsame Frankreich» nennt den obersten Polizeichef des Landes einen «Sarkozy-Verschnitt» und wirft ihm vor, er denke wie Le Pen, wenn er die Immigranten systematisch in die Nähe von Delinquenten rücke. Der 40-jährige Minister, dessen zweiter Vorname «Moussa» lautet, bezeichnet dies als absurd, sei er doch selber ein Immigrantensohn und habe eine algerische Grossmutter.

Darmanin mit der britischen Innenministerin Braverman.
Keystone

Hingegen verstärkt sich der Eindruck, dass Darmanin – dem präsidiale Ambitionen nach Ablauf von Macrons Amtszeit nachgesagt werden – seine Standpunkte je nach Stimmung im Land wechselt. Unter dem Eindruck der «Lola- und der Ocean Viking»-Affären beeilt er sich, das Einwanderungsrecht in Frankreich einmal mehr zu verschärfen. Unter anderem soll die Möglichkeit, Ausweisungsentscheide anzufechten, drastisch reduziert werden. Viele Nichtregierungsorganisationen üben scharfe Kritik daran; die Rechte wendet dagegen ein, eine Gesetzesverschärfung nütze nichts, solange die abgewiesenen Migranten nicht ausgeschafft würden.

Auf die Meinung ausserhalb seines Landes nimmt Darmanin weniger Rücksicht. In Italien hat er sich mit der Meloni-Regierung angelegt und zerstritten. Auch nahm er die «Ocean Viking»-Affäre zum Vorwand, eine bilaterale Übereinkunft aufzukündigen, wonach Frankreich von Italien 3500 Migranten aus Lampedusa hätte aufnehmen sollen. In der Nationalversammlung verteidigte er sich wie folgt:

In Grossbritannien ist Darmanin nicht besser angeschrieben als in Italien. Die Konservativen werfen der französischen Polizei vor, sie hindere die Migranten zu wenig am Überqueren des Ärmelkanals. Mitte November ist Darmanin mit seiner neuen britischen Amtskollegin Suella Braverman immerhin übereingekommen, die nächtlichen Polizeipatrouillen rund um Calais zu verstärken, um den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. London finanziert die Aufstockung mit insgesamt 72,2 Millionen Euro mit.

Darmanin hielt sich nicht lange mit dem Abkommen auf. Er traf sich mit Journalisten und erklärte ihnen zum wiederholten Mal, dass er sich nicht von Le Pens Thesen beeinflussen lasse, sondern sie mit seinem entschlossenen Vorgehen bekämpfe.