Moskaus Meister: Wie Draghi das Gas-Problem löst – und warum selbst Gazprom-Manager Putin den Rücken kehren
Heizen oder die Wohnung runterkühlen, das sind hochpolitische Aktivitäten – ganz besonders in unserer Zeit, wo der grösste Gas-Lieferant Europas einen sinnlosen Krieg auf dem Kontinent angezettelt hat und täglich unglaubliches Leid über ein friedliches Nachbarland bringt. Das weiss auch Mario Draghi. Und der italienische Regierungschef hat nicht vor, dem Treiben tatenlos zuzusehen.
Deshalb verordnet Draghi seinem Land einen klimatischen Sparkurs, die «Aktion Thermostat», wie italienische Medien die neuen Pläne betiteln. Ab dem 1. Mai dürfen Schulen, Büros und alle öffentlichen Gebäude nur noch auf 27 Grad hinuntergekühlt, im Winter noch maximal auf 19 Grad geheizt werden.
Explizit ausgenommen sind einzig Spitäler und Altersheime. Einzelne Städte – so zum Beispiel die Hauptstadt Rom – hatten bereits im März verfügt, dass öffentliche Gebäude nur noch auf maximal 18 Grad geheizt werden dürfen.
Tschernobyl und seine Folgen für Italien
Dass auch Klimaanlagen, die mit Strom betrieben werden, unter das neue Sparregime fallen, hat mit der speziellen italienischen Situation zu tun: Nach der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 schaltete Italien alle seine Atomkraftwerke ab; ausserdem hat das Land kaum Kohlekraftwerke.
Rund 60 Prozent des elektrischen Stroms wird deshalb in Gaskraftwerken erzeugt. Weil fast alle Italiener mit Erdgas heizen und kochen, ist der Anteil dieses Energieträgers am nationalen Energie-Mix so hoch wie kaum in einem anderen Land
Und trotzdem gibt sich Italien in der Gas-Frage kompromissloser als andere europäische Länder, die noch immer zuwarten. Mit den neuen Massnahmen will Draghi vier Milliarden Kubikmetern Erdgas jährlich einsparen, also rund 15 Prozent der jährlich importierten russischen Gaslieferungen.WERBUNG
Italien bezieht pro Jahr rund 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland, was 40 Prozent des gesamten Gasverbrauchs entspricht. In der Schweiz stammen gar 47 Prozent der direkten Gasimporte aus Russland.
Gazprom-Manager schliesst sich ukrainischem Widerstand an
Im Fall Italiens haben Algerien und Libyen, die beide bereits durch Mittelmeer-Pipelines mit Italien verbunden sind, bereits zugesagt, ihre Gaslieferungen zu erhöhen. Zudem verhandelt Draghi mit Angola und Kongo über zukünftige Lieferungen von verflüssigtem Erdgas.
Zudem könnte Italien die Förderung von Erdgas in den Gasfeldern vor seiner eigenen Küste wieder rauffahren. Um die Jahrtausendwende hatte das Land jährlich rund 20 Milliarden Kubikmeter Gas gefördert, 2021 waren es nur noch rund drei Milliarden Kubikmeter.
Wer gegen die neuen Temperatur-Vorgaben verstösst, riskiert eine Busse von bis zu 3000 Euro. Möglicherweise werden auch die privaten Haushalte bald von den staatlich verordneten Sparmassnahmen betroffen sein. Allerdings ist noch unklar, wer die Einhaltung der Regeln konkret überprüfen soll.
Bereits Anfang April hatte Draghi klargemacht, dass sein Land zu aussergewöhnlichen Schritten bereit sei, um dem russischen Aggressor zuzusetzen. «Was wollen wir lieber: den Frieden – oder den ganzen Sommer die Klimaanlage laufen lassen?»
Draghi ist bei weitem nicht der einzige, der sich mit der russischen Gas-Wirtschaft anlegt. Selbst einige hohe Gas-Beamte aus Putins Reich haben genug vom Krieg und wechseln die Seite. Gestern wurde bekannt, dass auch Igor Volobuev, langjähriger Manager beim russischen Gas-Riesen Gazprom und zuletzt Vizepräsident bei der staatlichen Gazprombank, sich in der Ukraine dem ukrainischen Widerstand angeschlossen hat.
«Ich hielt es in Russland nicht länger aus. Ich will mich von meiner Vergangenheit in Russland reinwaschen»
… sagte Volobuev der unabhängigen russischen Plattform «The Insider».