Friedensaktivist aus Gaza im Interview: «Die Hamas verkauft jetzt unsere Hilfsgüter auf dem Schwarzmarkt»
Wo sind Sie im Moment?
Hamza Hawidi: Im Moment befinde ich mich in einem Flüchtlingslager in Griechenland und beantrage Asyl.
Wann haben Sie Gaza verlassen?
Bereits im August. Ich habe im Sommer 2023 und im März 2019 an den «Wir wollen leben»-Protesten in Gaza gegen die Hamas teilgenommen. Daraufhin wurde ich zweimal verhaftet und gefoltert. Arabische Medien haben diese Demonstrationen komplett ignoriert, was ich stark verurteile. Ich wurde auch nach meiner Festnahme immer wieder von der Hamas bedroht und hatte zudem keine berufliche Perspektive mehr in Gaza, weil ich mich für Stellen im öffentlichen Sektor bewarb, aber kein Hamas-Mitglied war oder sein wollte. Das ist für solche Stellen eine Voraussetzung.Um schliesslich innerhalb von vier Tagen nach Ägypten ausreisen zu können, anstatt drei bis vier Monate warten zu müssen, bis mein Gesuch genehmigt wird, habe ich im August 700 Dollar Bestechungsgeld gezahlt. Dann ging ich in die Türkei und von dort mit einem Boot nach Griechenland.
Wie geht es Ihrer Familie in Gaza?
Meine jüngeren Brüder und meine Schwester befinden sich nicht in Gaza. Beide studieren an ägyptischen Universitäten. Leider konnte der Rest meiner Familie nicht aus dem Gaza-Streifen fliehen. Sie verliessen unser Zuhause im Stadtteil Al-Remal, nachdem unsere Nachbarschaft unbewohnbar geworden war, und zogen in den Süden des Gaza-Streifens nach Rafah, wo sie jetzt in einem Zelt leben. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Meine Brüder zum Beispiel sind von internationalen Hilfsgütern abhängig. Die werden jedoch meist von der Hamas gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Stellen Sie sich vor, dass den Menschen in Gaza aktuell ein Sack Mehl für 170 Schekel (40 Franken) verkauft wird.
Es gibt keine Spende für Gaza, von der die Hamas nicht profitiert. 2012 spendete Katar Wohnungen in einem Projekt namens «Hamad’s City» in Khan-Younis für diejenigen, die ihre Häuser im Krieg verloren hatten und sich kein neues kaufen konnten. Nachdem das Projekt gebaut war, begann die Hamas, die Wohnungen zu verkaufen. Oder 2021, als Ägypten viele Hilfsgüter spendete, fand man diese Produkte plötzlich in Supermärkten, die Hamas-Mitgliedern gehörten.
Wie setzen Sie sich konkret für den Frieden in Gaza ein?
Friedensaktivismus in Gaza ist ein ziemlich eingeschränkter Aktivismus. Ich bin in Kontakt mit Israelis und führe Gespräche und nehme natürlich an den Demonstrationen in Gaza teil. In Gaza ist es schwer, Menschen für eine friedliche Idee zu begeistern, denn nur eine Minderheit glaubt an Frieden und begrüsst Bestrebungen in diese Richtung. Dabei sehne ich mich so nach dem Tag, an dem wir alle hier friedlich zusammenleben. Das Land ist gross genug für uns alle und es könnte das Paradies auf Erden sein.
Wie sieht die Hamas, die politische Führung des Gazastreifens, Ihre Tätigkeit als Friedensaktivist?
Die Hamas hat alles daran gesetzt, den Friedensgedanken in den Köpfen der Bürger in Verrat umzuwandeln und die Menschen glauben zu lassen, dass der einzige Weg zu einem palästinensischen Staat über Krieg führt. Die Hamas hat auch überall in Gaza ihre Spione. Ich erlebte das im Fall eines anderen palästinensischen Aktivisten, Rami Aman: Als er und eine kleine Gruppe von Gazanern versuchten, Gespräche mit Israelis zu führen, wurden sie sofort verhaftet. Jemand in dieser Gruppe gehörte der Hamas an und hat sie verraten.
Ich hatte in Gaza also Angst, mit Israelis zu sprechen. Jedes Gespräch mit Menschen von der «anderen Seite» wird als «Arbeit für feindliche Parteien» betrachtet und hat eine Festnahme zur Folge.
Wie viel Rückhalt hatte die Hamas von der Bevölkerung bis zum 7. Oktober? Und hat sich das geändert?
Vor dem 7. Oktober waren die Menschen verärgert und wütend über die Politik der Hamas und die wirtschaftliche Lage. Deshalb wurde drei oder vier Monate vor den Anschlägen auf Israel in Gaza gegen die Hamas protestiert. Und die Hamas ist sich bewusst, dass sie wenig Rückhalt hat in der Bevölkerung. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass die Hamas keine Wahlen zulässt.
Die Hamas tut eigentlich immer dasselbe, wenn sie an Unterstützung verliert: Sie beginnt einen Krieg gegen «den grössten Feind», wie sie Israel immer bezeichnet, um die Angst der Palästinenser auszunutzen und den Menschen in Gaza zu zeigen, dass sie die einzige Partei ist, die sie scheinbar vor Israel beschützen kann. Die Hamas kämpft, weil sie Angst um ihren Wohlstand hat. Nicht weil sie sich für das Wohl ihres Volkes interessiert.
Sind die israelischen Geiseln in Gaza Thema?
Wenn darüber gesprochen wird, dann geht es in erster Linie darum, weil die Freilassung der Geiseln die Voraussetzung für einen Waffenstillstand ist. Um Mitgefühl den Geiseln gegenüber geht es, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie.
Im Westen gibt es viele pro-palästinensische Demonstrationen mit einer hohen Teilnehmerzahl. Die Parole «From the river to the sea» wurde zu einem Diskussionspunkt. Auch die Tatsache, dass bei diesen Demonstrationen die Hamas kaum oder nie kritisiert wird. Wie sehen Sie das?
Ich bin mir nicht sicher, ob sich diese Menschen an solchen Demonstrationen bewusst ist, was «From the river to the sea» wirklich bedeutet. Millionen von Menschen ins Wasser oder sonst wohin zu werfen? Wo wir doch alle Wurzeln in diesem Land haben und es verdienen, dort in Frieden zu leben. Ich werfe vor allem den arabischen Medien vor, wie sie über die Hamas berichten und verurteile es, wenn die Hamas als «Widerstandsbewegung» dargestellt wird. Ein Verbrechen ist und bleibt ein Verbrechen, auch wenn es von einer Bewegung oder einem Volk begangen wird, das man unterstützt.
Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, um diesen Krieg zu beenden? Und wie sollten Israel und die Palästinenser danach weitermachen?
Ich kann mir ein Ende dieses Konflikts erst vorstellen, wenn alle Geiseln in ihre Heimat zurückkehren und eine neue palästinensische Führung, die ihre Bürger respektiert, aufzeigen kann, wie man mit unseren Nachbarn zusammenleben kann. Und es muss eine Führung sein, die das radikale dschihadistische Gedankengut verbietet.
Glauben Sie, dass eine friedliche Nachbarschaft zwischen Israelis und Palästinensern überhaupt noch möglich ist?
Das ist keine Glaubensfrage. Das ist ein Muss. Wir haben keine andere Option.