Sie sind hier: Home > Natur > Die Erfolgsgeschichte geht weiter: In zehn Jahren könnte es doppelt so viele Bartgeier geben wie heute

Die Erfolgsgeschichte geht weiter: In zehn Jahren könnte es doppelt so viele Bartgeier geben wie heute

Einst war er ausgerottet, nun ist es gelungen, den Bartgeier im Alpenraum wieder anzusiedeln. Gemäss einer neuen Studie kann sich der Bestand bis 2035 gar auf rund 700 Tiere verdoppeln. Wie ist das möglich?

Hoch oben in den Bergen, in den felsigen Wänden, brüten sie nun wieder, die Bartgeier. Und dies seit Dezember. Der Winter ist eine aussergewöhnliche Brutsaison, doch der Bartgeier ist auch kein gewöhnlicher Vogel. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,9 Metern ist er – neben dem Mönchsgeier – der grösste Greifvogel Europas. Zudem hat er die stärkste Magensäure im ganzen Tierreich. Diese löst Knochen fast vollständig auf und ist vergleichbar mit dem pH-Wert einer Batteriesäure.

Dass in den Bergen bald erste Bartgeier-Küken schlüpfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Über knapp hundert Jahre war der grosse Vogel in den Alpen ausgerottet. 1986 startete seine Wiederansiedlung in Österreich, 1991 in der Schweiz – und wurde zur Erfolgsgeschichte. Heute leben rund 350 Bartgeier in den Alpen. Eine Studie der Universität Bern, der Schweizerischen Vogelwarte und der Stiftung Pro Bartgeier prognostiziert nun eine weitere Zunahme des Bestands: Bereits in zehn Jahren könnten doppelt so viele Tiere im Alpenraum leben wie bisher – also 700 Bartgeier.

«Der Bartgeier ist nicht aufgrund von Lebensraumveränderungen aus den Alpen verschwunden, sondern weil er von den Menschen gejagt wurde», sagt Biologe Livio Rey von der Schweizerischen Vogelwarte. Lange Zeit war der Bartgeier gefürchtet, weil ihm fälschlicherweise der Verzehr von Nutztieren wie Ziegen oder Lämmern unterstellt worden ist. Sogar kleine Kinder seien vor ihm nicht sicher, munkelte man. Erst später setzte sich das Wissen durch, dass der grosse Vogel ein harmloser Knochenfresser ist. Um dafür zu sensibilisieren, haben Zoos Bartgeier mit Hasen oder Murmeltieren in einer Voliere untergebracht. Letztere grasten friedlich und wurden von den gefiederten Mitbewohnern nicht weiter beachtet.

Nicht überall in den Alpen gefällt es dem Bartgeier gleich gut

«Dass sich der Lebensraum des Bartgeiers grundsätzlich wenig verändert hat, ist mit ein Grund, dass die Wiederansiedlung sehr erfolgreich gewesen ist», sagt Rey. Zum Vergleich erwähnt er den gescheiterten Versuch, das Rebhuhn wieder anzusiedeln. Dessen Lebensraum habe sich durch die Intensivierung und Monotonisierung der Landwirtschaft derart stark gewandelt, dass die Versuche gescheitert sind.

Doch auch den Bartgeiern behagt es in den Bergregionen nicht überall gleich. «Sie fühlen sich vor allem in den Nordwest- und Zentralalpen wohl. Dort sind die Bedingungen für sie sehr gut. Weniger gut sind diese in den Süd- und Ostalpen, den Randgebieten ihres Lebensraums», sagt Rey.

Bartgeier ernähren sich von den Knochen toter Tiere, insbesondere von Steinböcken und Gämsen. Deshalb brauche es einen relativ hohen Huftierbestand, sagt der Biologe. Zudem mögen die Bartgeier Gebirge mit Kalkstein. In dessen Felswänden finden sie geschützte Nistplätze. Zudem benötigen die Tiere Geröllhalden, um grosse Knochen wiederholt aus der Höhe fallen und dadurch in kleine Teile zersplittern zu lassen. Erst dann können sie diese verzehren.

Lange Lebensdauer, aber nur wenig Nachwuchs

Die Forschenden stellten fest, dass in den Randgebieten die Populationen sich nur langsam vergrösserten. Dies führten sie primär auf die häufigeren Todesfälle von ausgewachsenen Bartgeiern zurück. Bereits wenige solche Verluste seien für die ganze Population fatal, sagt Rey.

Denn ein Bartgeier ist frühestens im Alter von fünf Jahren geschlechtsreif. Und ein Brutpaar kann pro Saison lediglich einen einzigen Jungvogel grossziehen. «Damit sich eine Population aufbauen und vergrössern kann, ist es entsprechend wichtig, dass die ausgewachsenen Tiere lange leben», sagt der Biologe. Stirbt ein Bartgeier im Alter von zehn statt dreissig Jahren, fehlen zwanzig potenzielle Jungvögel, rechnet Rey vor. Die Lebensdauer von Bartgeiern ist relativ lang. In freier Wildbahn sind 30-jährige Tiere keine Seltenheit, wenn ihr Schutz ausreichend ist.

Tödliche Gefahren gibt es für den grossen Vogel einige. Die Forschenden listen in der Studie unter anderem Wilderei, Vergiftungen, Kollisionen mit Transportkabeln oder Windrädern auf. Auch Störungen am Brutplatz durch Gleitschirmflieger oder Kletterer können dazu führen, dass die Brutpaare das Nest verlassen.

Deshalb warnen die Studienautoren vor zu grosser Euphorie bezüglich ihrer Modellrechnung: Zwar hat sich eine selbsterhaltende Population in den Alpen etabliert, doch schon ein relativ geringer Anstieg der Sterblichkeit kann zu einer abnehmenden Population führen.